Essen. . Die neue Lohnuntergrenze hat in Essen keine Kündigungswelle ausgelöst. Dennoch gab es Auswirkungen vor allem für Taxi-Kunden und Praktikanten.
Die Befürchtungen waren auch in Essen groß. Doch nach einem Jahr Mindestlohn steht fest: Eine Kündigungswelle hat es nicht gegeben. Im Gegenteil: In Essen gibt es heute mehr Beschäftigung als vor einem Jahr. Das gilt auch für Branchen wie das Gastgewerbe oder den Verkehrs- und Logistikbereich, die mit am stärksten vom neuen Mindestlohn betroffen waren. Das bestätigt die Arbeitsagentur. „Der Mindestlohn hat für uns keine Rolle gespielt“, sagte Klaus Peters, Chef der Essener Behörde. Auch bei Neueinstellungen waren die Arbeitgeber nicht zurückhaltender. Sie meldeten im vergangenen Jahr sogar zehn Prozent mehr freie Stellen als 2014.
Taxi-Kunden spüren den Mindestlohn
Ganz ohne Wirkung ist der Mindeststundenlohn von 8,50 Euro freilich nicht geblieben. Mancher zahlt seither mehr für den Haarschnitt. Besonders deutlich aber bekamen ihn Taxi-Kunden zu spüren und das nicht nur bei den Preisen, die Anfang 2015 deutlich anzogen. „Das Angebot ist zu umsatzschwachen Zeiten dünner geworden“, bestätigte Michael Rosmanek, Vorstandsvorsitzender der Taxigenossenschaft. Besonders Montag-, Dienstag- und Mittwochnacht sind in Essen heute weniger Taxen unterwegs, weil die Standzeiten für Unternehmen zu teuer geworden sind. Das Personal wurde entsprechend angepasst. Das alles sei unterm Strich aber glimpflicher abgelaufen als befürchtet, räumte Rosmanek ein.
Natürlich gibt es auch in Essen Arbeitgeber, die versuchen, den Mindestlohn zu umgehen. Immer wieder landen Hinweise bei der Gewerkschaft Verdi. Das größte Problem: Arbeitgeber erkennen geleistete Arbeitsstunden ihrer Mitarbeiter nicht an. An ein Beispiel erinnert sich Verdi-Geschäftsführer Lothar Grüll besonders: Der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes sollte die Fahrzeiten zwischen den Baustellen, die er bewachen musste, nicht bezahlt bekommen. In solchen Fällen schaltet sich die Gewerkschaft ein. „Wir zeigen Arbeitgeber nicht leichtfertig an“, sagte Grüll. Viele Unternehmen zeigten sich nach Gesprächen einsichtig.
Verdi zeigt Verstöße an – aber „nicht leichtfertig“
Fünf Fälle von Verstößen zog Verdi allerdings bis zum Urteil durch. Das klingt wenig. Doch Grüll weiß, dass dies wohl nur die Spitze des Eisberges ist. „Besonders Mitarbeiter in kleineren Unternehmen haben Angst, sich zu wehren. Denn dann ist die Kündigung recht schnell auf dem Tisch.“
Aus Sicht der Wirtschaft hat der Mindestlohn auch Praktikanten getroffen. Deren Zahl sei zurückgegangen, meint Ulrich Kanders, Hauptgeschäftsführer des Essener Unternehmensverbandes. „Wir hören immer wieder Klagen, dass der Einsatz deutlich erschwert und zu teuer ist. Darunter leiden vor allem Studenten, die durch Praktika gute Möglichkeiten hatten, berufliche Praxis zu sammeln.“
Auch wenn Kanders einräumte, dass sich viele Sorgen der Unternehmen nicht bewahrheitet haben, die Euphorie der Gewerkschaften teilt er dennoch nicht. Er spricht von einer „Scheinruhe“ aufgrund der guten Konjunktur und der guten Beschäftigungssituation in Essen.
„Wenn ich auf unsere jüngste Konjunkturumfrage schaue, ziehen dunkle Wolken auf“, so Kanders. Dann könnten die Auswirkungen deutlicher werden.