Essen. . Der Essener Unternehmer und „Unperfekthaus“-Gründer Reinhard Wiesemann ist nach 35 Jahren wieder in die Evangelische Kirche eingetreten.

Eigentlich will er diesen Artikel gar nicht. Er will nicht öffentlich als jemand dastehen, der plötzlich eine Erleuchtung hatte oder so etwas.

Was passiert ist? Reinhard Wiesemann ist nach 35 Jahren wieder in die Evangelische Kirche eingetreten. „Eigentlich soll es nicht um mich persönlich gehen. Normalerweise möchte ich, dass über meine Projekte gesprochen wird.“

Seine Projekte: Ohne ihn wäre die nördliche Innenstadt heute eine andere. Man kann wohl sagen: eine schlechtere. 2004 erfand er das „Unperfekt-“, acht Jahre später das „Generationen-Kult-Haus“, und vor einem Jahr eröffnete die sanierte Kreuzeskirche als neuer Veranstaltungsort; Wiesemann hatte mehr als eine Million Euro dazugegeben. Neulich ist er zum „Bürger des Ruhrgebiets“ ernannt worden.

Sein Wiedereintritt in die Kirche in diesem Jahr war jedenfalls nur ein „formaler Schritt“, sagt er selbst, eine Unterschrift auf einem Formular, „das Ergebnis eines zwanzigjährigen Prozesses.“

Wiesemann, aufgewachsen in Wuppertal, kommt aus einem evangelischen Haushalt, in dem Religion keine größere Rolle spielte. „Der Pfarrer verabschiedete uns beim Weihnachtsgottesdienst mit den Worten: ,Dann bis Ostern!’“ Mit 13 oder 14 Jahren arbeitete Wiesemann aktiv daran mit, dass seine Konfirmation nicht stattfinden wird: „Ich mochte den Pfarrer im Konfirmationsunterricht. Doch ich gab Widerworte, stellte alles in Frage. Der Pfarrer zitierte mich irgendwann in sein Büro, und gemeinsam beschlossen wir, dass eine Konfirmation sinnlos ist. Ich war damals absoluter Atheist.“

Religion und Wissenschaft vereinbaren

Religion oder Wissenschaft – Betonung auf „oder“. Das war lange Wiesemanns Überzeugung. „Ich dachte, beides geht nicht zusammen“, sagt der 56-Jährige. „Früh war für mich klar, dass Experimente zählen, deren Ergebnisse im Zweifel widerlegt werden können. Aber nicht Glaube, der aus Erfahrung oder Überzeugung argumentiert.“ Als er 20 war, trat er aus.

Aus der Evangelischen Kirche in Essen sind im letzten Jahr rund 1000 Bürger ausgetreten; der Kirchenkreis verliert jährlich etwa 2700 Mitglieder, auch durch Wegzüge und Todesfälle. Mehr als 7500 Austritte zählte die Katholische Kirche im Jahr 2014 in den Städten des Ruhrbistums, nicht mitgezählt die Todesfälle. Wiederaufnahmen bistumsweit: 227. In die Evangelische Kirche traten im letzten Jahr genau 176 Menschen wieder ein, außerdem ließen sich 67 Erwachsene taufen.

Herr Wiesemann, sind Sie ein spiritueller Mensch? Er lächelt und fragt zurück: „Was ist Spiritualität?“ Er bezeichnet sich als „Kopfmenschen mit Herz“, und er ist fest überzeugt von der Annahme, dass wir uns in nichts zu sicher sein sollten. „Es gibt keine Gewissheit. Ich war lange der Überzeugung, dass Kirche so tut, als wisse sie, was der einzig rechte Weg ist, und das hat mich stets abgeschreckt.“

Begegnungen mit Menschen prägten

Doch Leben, sagt er, sei für ihn Begegnung mit anderen, und seine Jahre in der Innenstadt seien geprägt von der Begegnung mit besonderen Menschen: „Hinter vielen guten Sachen stand oft die Evangelische Kirche.“ In den Gesprächen, die sich oft ergeben hätten, sei in ihm die Erkenntnis gereift: „Die Evangelische Kirche ist frei von einem Exklusivitätsgedanken. Sie lässt Unsicherheit zu, sie ist gelebte Unsicherheit.“

Glaube und Wissenschaft, sie gehen ja doch zusammen, hat Wiesemann also festgestellt: Physiker bezeichnen Licht mal als Teilchenstrom und mal als Welle. Eigentlich zwei gegensätzliche Erklärungen. „So ist es mit Gott auch“, sagt Wiesemann: „Dreifaltigkeit ist ein geniales Denkmodell – Gott mal als Vater, mal als Sohn und mal als Heiliger Geist.“ Das Göttliche als das, was sozusagen von oben kommt – als Vater –, oder das, was für uns der Mitmensch ist – als Sohn –, oder das, was wir im Innersten sind – als Heiliger Geist.

Tatsächlich, hat Wiesemann festgestellt, lasse die Religion hier ein Mehrfaches an Bedeutung zu. So wie auch der berühmte „Baum der Erkenntnis“ aus der Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies gar kein Baum der Erkenntnis sei, sondern der „Baum von der gottgleichen Erkenntnis von Gut und Böse“. Das habe ihm, Wiesemann, mal ein Jesuit erklärt.

Gott tat letztendlich also gut daran, Adam und Eva nicht von dem Apfel dieses Baumes essen zu lassen, denn seine Botschaft lautet: „Seid euch nicht zu sicher.“

Das hat ihn, den Zweifler, letztendlich überzeugt. Und seine Zweifel, die hat er beim Wiedereintritt in die Kirche einfach mitnehmen können. Sonst wäre er diesen Schritt nicht gegangen: „Ich lasse mich nur ungern vereinnahmen.“