Essen. Kinder ab zehn Jahren müssen auf der Straße radfahren, verlangt der Gesetzgeber. In Essen ist das an vielen Stellen unmöglich - das weiß auch die Polizei.

Essen schmückt sich gern mit den Attributen „Großstadt für Kinder“ und „fahrradfreundliche Stadt“ – für radfahrende Kinder aber ist Essen ein hochgefährliches Pflaster.

Dabei ist das Fahrrad ein tolles Verkehrsmittel für Kinder, und zwar nicht nur bei sonntäglichen Touren mit der Familie. Auch im Alltag sind sie meist in einem überschaubaren Radius von wenigen Kilometern zu Schule, Freunden oder Sportverein unterwegs. Auf dem Rad könnten sie Selbstständigkeit lernen, motorische Fähigkeiten und Fitness trainieren – alles, was Politik und Erziehungsratgeber postulieren.

Schon für erwachsene Radler eine Herausforderung

Unser familiärer Praxistest fällt weniger positiv aus: Mit drei Jahren radelte mein Sohn noch munter zum Kindergarten, begleitet und auf dem Radweg – ein harmloses Vergnügen. In der Grundschulzeit musste er darauf verzichten: Der Schulweg führte an der Rellinghauser Straße entlang, auf der neben vielen Autos die Straßenbahn unterwegs ist. Schon für erwachsene Radler eine Herausforderung.

Freilich müssen Kinder bis zum achten Lebensjahr ohnehin auf dem Gehweg radeln, zwischen acht und zehn Jahren haben sie die Wahl. Doch an der Rellinghauser Straße ist der Bürgersteig teils so schmal, dass ein radelndes Kind zur Gefahr für Fußgänger wird. Also ging unser Sohn lieber selbst zu Fuß, zwei Kilometer. Vielen Eltern erscheint das zu weit, sie chauffieren ihre Kinder bis vors Schultor.

Kinder sollen mit ihren Eltern üben

Seit vergangenem Sommer besucht unser Sohn eine weiterführende Schule, die Strecke hat sich nun fast halbiert; er würde gern mit dem Rad fahren. Doch das birgt neue Gefahren: „Ab zehn Jahren müssen Kinder grundsätzlich auf der Straße radfahren“, betont Polizeisprecher Marco Ueberbach. Damit das sicher gelingt, sollen alle Viertklässler die Fahrradprüfung ablegen. Wochenlang wird an den Grundschulen dafür geübt, dann kommen Polizei und Verkehrswacht zur Prüfung. „Bei der Übungsfahrt wird geschaut, wie sich die Kinder an Gefahrenpunkten verhalten“, sagt Ueberbach. Nach bestandener Prüfung sollten die Eltern weiter mit ihren Kindern üben. Die Mädchen und Jungen müssten mit den Verkehrsregeln gut vertraut sein und das Rad motorisch sicher beherrschen. „Nur dann können sie sich auf den Straßenverkehr konzentrieren.“

Ausbau der Radwege geht langsam voran

Die Rechtslage ist eindeutig: Kinder ab 10 Jahren müssen grundsätzlich auf der Straße radfahren, der Gehweg ist für sie tabu.

Und der Fahrradbeauftragte der Stadt, Christian Wagener, hält das für richtig: „Ältere Kinder werden sicherer und radeln schneller. So gefährden sie die Fußgänger, die wir als schwächste Verkehrsteilnehmer besonders schützen müssen.“ Radfahrer gehörten daher nicht auf den Bürgersteig.

In der Praxis hänge viel von den Fertigkeiten des Kindes ab. Es gebe Neunjährige, die ihr Rad gut beherrschen, und unsichere 13-Jährige. Davon abgesehen bestreitet Wagener nicht, dass viele Hauptverkehrsstraßen kaum für (junge) Radler geeignet sind. Auf mehrspurigen, vielbefahrenen Straßen fehle oft ein Radweg. „Da sollten Eltern mit ihren Kindern Ausweichrouten über Nebenstraßen auswählen.“

Auf den Einwand, dass das in Essen zu erheblichen Umwegen führen kann, sagt Wagener: „Wir arbeiten seit 20 Jahren daran, unser Radverkehrsnetz auszubauen. Wäre die Stadt finanziell besser aufgestellt, ginge das schneller voran.“ Aktuell werde der holprige Bordsteinradweg an der Sommerburgstraße durch einen Schutzstreifen ersetzt. 2016 werde eine Radweg-Lücke an der Frohnhauser Straße zwischen Westend- und Hans-Böckler-Straße (B 224) geschlossen. 2017 stehe an der Altenessener Straße ein Lückenschluss an. Er verspricht: Noch in diesem Jahr werden weitere Ausbaupläne vorgelegt.

Soweit die Theorie: Unser Sohn fährt viel Rad, doch sein neuer Schulweg führt über eine der typischen Essener Hauptverkehrsachsen: die Kurfürstenstraße im Südostviertel. Das Bild oben zeigt die tückische Einmündung zur Ruhrallee, hier herrscht morgens Hochbetrieb; Autos, Laster, Busse ziehen rasant auf die Abbiegespur zur Moltkestraße. „Ich würde selbst nicht über diese Straße fahren“, sagt der Vater eines Schulfreundes.

Auf Fußgänger Rücksicht nehmen

Und Jörg Brinkmann vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub Essen klagt: „Solche Hauptstraßen sind Barrieren für Radfahrer.“ Seit 1995 habe sich Essen den Ausbau von Radwegen auch an Hauptrouten auf die Fahne geschrieben, komme dabei aber nur schleppend voran. Eltern rate er, ihre Kinder auf Seitenstraßen zu schicken.

So halten wir es, so empfiehlt es auch Karl-Heinz Webels von der Verkehrswacht: „Erst Kinder ab 13, 14 Jahren können im Großstadtverkehr mitfließen.“ Für Jüngere sei das Verkehrsgeschehen zu komplex. Es sei denn, sie könnten ausgewiesene Radwege nutzen, an denen es aber in Essen vielerorts leider fehle. Entsprechend sensibel geht übrigens auch die Essener Polizei mit dem Thema um: Niemals verhänge man eine Geldbuße, wenn ein Zehnjähriger auf dem Gehweg neben einer vielbefahrenen Straße radele; und kein Polizist zwinge ein unsicheres Kind, etwa die Gladbecker Straße zu nutzen. „Wir ermahnen es nur, auf Fußgänger Rücksicht zu nehmen.“