Essen. Für viele Menschen ist der Gedanke an eine forensische Klinik mit Ängsten verbunden. Doch wie leben die Menschen, die hier untergebracht sind?
Ruhig und mit rheinischem Zungenschlag erzählt Hassan T.* (*Name geändert), warum er hier ist. Der 25-Jährige stammt aus Köln, das ist nicht zu überhören. Seit knapp drei Monaten ist er nun in der Klinik für Forensische Psychiatrie im LVR-Klinikum untergebracht. Ihm wird schwere Körperverletzung zur Last gelegt, weil er im Drogenrausch einem Freund ein Handy derart fest gegen den Mund geschleudert haben soll, dass dieser dabei einige Frontzähne verlor.
„Ich habe eine drogenindizierte Psychose“, sagt der junge Mann scheinbar mit innerer Distanz. Zugleich wirkt er beschämt, was hinter einer vordergründigen Coolness ab und zu durchblitzt. Er ist einer von 54 Inhaftierten, die in der vor nunmehr sechs Jahren durchaus gegen Widerstände eröffneten Einrichtung in Holsterhausen zurzeit auf ihre Hauptverhandlung warten.
Forensik wird oft in eine Schublade gesteckt
Inhaftierte, Gefangene... eben dies ist ein Vokabular, das Chefarzt Stephan Roloff-Stachel bewusst vermeidet. Er spricht lieber von Patienten. „Zunächst gilt für jeden, den wir in unsere Obhut nehmen, die Unschuldsvermutung, bis ihn ein Gericht rechtskräftig verurteilt hat. Zum anderen liegt bei vielen Patienten ein komplexes Krankheitsbild zugrunde, auf dessen Grundlage wir ihre Schuldfähigkeit beurteilen müssen.“
Denn beim Begriff Forensik gehe bei Laien schnell eine bestimmte Schublade im Kopf auf: „Die meisten denken sofort an Sexualstraftäter. Dabei werden bei uns nur fünf bis zehn Prozent der Patienten wegen eines Sexualdelikts behandelt.“
Psychose durch Drogen ausgelöst
Und so landen in dem Hochsicherheitstrakt vor allem Menschen, deren Lebensweg von Brüchen gezeichnet ist. Auch der von Hassan T. Früh musste er selbstständig sein, zog mit 16 aus, da seine alkoholkranke Mutter mit ihm überfordert war. Zwischenzeitlich lebte er drei Jahre im Heim, seinen Vater hat er nie kennengelernt. Mit Ach und Krach klappte es dann mit dem Hauptschulabschluss und dem durchaus redegewandten Kölner gelang es, einen Ausbildungsplatz als Einzelhandelskaufmann zu ergattern – die Lehre schloss er erfolgreich ab.
Später dann war er als Verkäufer bei einem großen Mobilfunkanbieter tätig – wer Hassan zuhört, kann sich gut vorstellen, wie er die Kunden versiert durch den Dschungel verschiedenster Handytarife führt.
Ärzte tragen bei Gerichtsverhandlungen eine große Rolle
Und dennoch gelangte der Verkäufer irgendwann an einen Punkt, an dem es nicht mehr weiterging. Mit 19 rauchte er den ersten Joint, später kam er mit Kokain in Berührung. Mit der aufputschenden Droge ließ sich auch der Leistungsdruck im Job besser aushalten – mehr Verkaufsabschlüsse, nachts länger wachbleiben. „Ein einziger Abend ging bei mir ordentlich ins Geld, da habe ich mal eben 200 Euro für Stoff hingelegt.“ Ein halbes Gramm kostet in der Szene gut 50 Euro.
Doch löste die Droge gleichzeitig Aggressionen bei ihm aus, die er nicht mehr kontrollieren konnte, er litt zunehmend an Wahnvorstellungen. Einmal ging er im Rausch beinahe auf seine Mutter los, randalierte im Vorgarten, zertrümmerte Blumentöpfe.
Einschätzung eines Gutachters
In der Klinik konnte Hassan zum ersten Mal zu sich kommen und Abstand von den Drogen gewinnen. Clean werden, zurück in einen geregelten Alltag und den Beruf finden – das sind jetzt seine Primärziele. Ob er entlassen wird, hängt vor allem von der fachlichen Einschätzung eines Gutachters ab, der über seine Persönlichkeit und weitere Entwicklung, insbesondere im Hinblick auf die spätere Straffälligkeitsprognose, befinden soll.
Für das Gerichtsverfahren spielen die behandelnden Ärzte später eine tragende Rolle, da sie in der Regel als „sachverständige Zeugen“ eingesetzt werden. Anders als die meisten Forensiken liegt die Essener Einrichtung sehr zentral in der Stadt, einen Steinwurf entfernt befinden sich das Gefängnis und die B-M.V.-Schule – eine Kombination, die früher gerade bei Eltern starken Widerstand gegen die Klinik hervorrief.
Betroffene fühlen sich oft allein gelassen
Doch das Blatt hat sich gewendet. Inzwischen ist das Haus gut in den Stadtteil integriert – auch, weil man sich nach Kräften um Transparenz in der Öffentlichkeit bemüht. „Die Vorstellung der Leute von dem, was hier passiert, ist doch sehr stark von Filmen geprägt“, sagt Roloff-Stachel. „Die Realität ist weit weniger spektakulär.“
Dennoch gerät der Umgang mit den Patienten, die hier untergebracht sind, immer wieder zum Politikum. Ein Phänomen, das der Psychiater durchaus nachvollziehen kann: „Einige Menschen kritisieren, dass unser Rechtssystem für die Täter weitaus mehr tut als für die Opfer. Die Täter werden quasi automatisch helfenden Systemen zugeführt – wobei diese das bei Weitem nicht immer so erleben, sondern vornehmlich den Sanktionscharakter wahrnehmen. Opfer hingegen müssen viel mehr Eigeninitiative entwickeln, um Hilfe zu erhalten. Da fühlen sich die Betroffenen oft allein gelassen.“
Menschwürdiger und respektvoller Umgang
Eines stellt Roloff-Stachel allerdings klar: „Es ist in der Forensik nicht unsere Aufgabe, ein moralisches Urteil zu fällen.“ Vielmehr müsse man einschätzen, ob der Verdächtige psychisch krank ist und ob diese Erkrankung für das Delikt verantwortlich ist. Weiter gilt es für die Ärzte zu klären, ob der Patient aufgrund seiner Diagnose eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.
Dennoch, oder gerade deshalb, ist ein menschenwürdiger und respektvoller Umgang mit den Patienten für den Psychiater unerlässlicher Bestandteil der Klinikkultur. Auch hier will er mit einigen gängigen Klischees aufräumen: „Wir mischen den Patienten weder Medikamente ins Essen, noch werden sie bei uns ruhig gestellt, wie es immer so schön heißt.“
Soziale Ansprache und stabile Tagesstrukturen
Am Aufnahmetag tragen die Ankömmlinge zunächst reißfeste Kleidung und werden von einem Stationsarzt eingehend untersucht. Gut 100 Mitarbeiter sind in der Psychiatrie insgesamt tätig, jeder Patient hat ein Einzelzimmer zur Verfügung. Grundsätzlich dürfen die Inhaftierten Besuch von Freunden und Angehörigen nach Absprache erhalten und telefonieren, wenn die Klinik den Kontakt koordiniert.
Soziale Ansprache ist für die meisten hier ebenso wichtig wie eine stabile Tagesstruktur, erläutert der Arzt: „Manche Patienten sind gar nicht autonomiefähig. Die haben in ihrem Leben noch nicht selbstständig für sich gekocht.“ Dabei ist es selbst für den Experten immer wieder faszinierend, welche abstrusen Ideen das menschliche Gehirn in einem psychotischen Zustand entwickeln kann. So war ein junger Mann der festen Überzeugung, sein ganzes Leben werde im Internet gestreamt.
"Ich habe ihn um Entschuldigung gebeten"
Bei aller Komplexität der Bewusstseinszustände muten die juristischen Begriffe etwas hölzern an, die eine verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit diagnostisch beschreiben: So unterscheidet die Rechtsprechung zwischen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, Schwachsinn, einer krankhaften seelischen Störung oder seelischer Abartigkeit.
Hassan T. kann inzwischen recht gut das Geschehene reflektieren und bedauert seine Tat aufrichtig. Auch, weil der Leidtragende eigentlich ein guter Freund von ihm ist. „Ich habe ihn um Entschuldigung gebeten und er hat mir verziehen“, sagt er erleichtert. Nun hofft er auf seine Entlassung. Und auf eine Chance zurück ins Leben.