Essen. Die Familien-Feuerwehr war im vergangenen Jahr im Dauereinsatz. Über 400 Kinder mussten in Obhut genommen werden. 99 von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Deshalb braucht es eine zweite Notaufnahme

Ein Vater, der seinen 18 Tage alten Sohn totschlägt, weil ihn das Schreien des Kindes beim Computerspielen stört. Eine Mutter, die ihr sechs Monate altes Baby aus dem Fenster wirft und in ihrer Verzweiflung hinterherspringt. Schreckenstaten wie jüngst die in Altenessen und Holsterhausen werfen immer wieder ein grelles Licht auf den schmalen Grat zwischen Wohl und Wehe kindlichen Daseins in einer Großstadt.

Im Schlagzeilen-Schatten der öffentlichen Wahrnehmung bleiben dann regelmäßig jene tagtäglichen Fälle, die glücklicherweise nicht mit dem Tod eines völlig wehrlosen, kleinen Menschen enden, deshalb aber kaum weniger alarmierend sind: Rund um die Uhr ist die Familien-Feuerwehr des Kinderschutzbundes und des Jugendamts in den Grauzonen der Stadt unterwegs, um Schlimmstes zu verhindern. Was meist gelingt. Manchmal aber auch nicht.

1400 Hinweisen nachgegangen

1400 Mal gingen die Mitarbeiter der Sozialen Dienste allein im vergangenen Jahr nach Hinweisen von Nachbarn, Kita-Mitarbeitern, Kinderärzten oder Lehrern dem Verdacht nach, dass das Wohl eines Kindes gefährdet sein könnte. In den wenigsten Fällen stand am Ende ein falscher Alarm: In acht von zehn Einsätzen stellte sich heraus, dass Hilfen angesagt waren, eine Familie, ein Elternteil zumindest Unterstützung brauchte, sagt Annette Berg, Chefin des Jugendamtes, in dessen Statistik eine andere, seit Jahren konstant hohe Zahl Grund zur Sorge ist.

Über 400 Kinder mussten in Obhut, also vorübergehend oder für längere Zeit aus ihren Familien genommen werden, weil sie akut gefährdet waren. 99 davon waren noch nicht einmal sechs Jahre alt. „Die Zahl der jüngeren Kinder in Not wächst zusehends“, sagt Ulrich Spie, Vorstandsvorsitzender des Essener Kinderschutzbundes: „Die Übergriffe werden immer brutaler. Und ich glaube, dass wir diese Dinge zunehmend erleben werden. Da kommt eine Welle auf uns zu.“ Zunehmende Bildungsferne, schlechte Erfahrungen in der eigenen Jugend, die oftmals prekäre soziale Situation von jungen Vätern und Mütter und vermehrt psychische Erkrankungen – diese Indikatoren des gängigen Frühwarnsystems zeigen immer seltener durchgängig grünes Licht.

Kinderschutzbund hat Zeichen der Zeit erkannt

Der Kinderschutzbund hat die schlimmen Zeichen der Zeit längst erkannt und will neben aller vorbeugenden Arbeit wirksam vorbauen, wenn es mal wieder hart auf hart gekommen ist: In Borbeck soll eine zweite Notaufnahme für die Jüngsten der verwahrlosten, misshandelten oder missbrauchten Kinder entstehen, da sie eine besondere Fürsorge brauchen und das Spatzennest in Altenessen aus allen Nähten platzt. Jahr für Jahr müssen an der II. Schichtstraße etwa 100 Kleine, die in akuten Krisen aus ihren Familien geholt worden sind, abgelehnt und andernorts untergebracht werden. 1,2 Millionen Euro will der örtliche Kinderschutzbund für den Neubau an der Zweigstraße aus Spendenmitteln aufbringen. Die NRZ unterstützt diese Aktion und bittet alle Leserinnen und Leser um Mithilfe, damit das auch aus Sicht des Jugendamtes für die Kinder dieser Stadt immens wichtige Projekt realisiert werden kann (siehe Info-Kästen).

Annette Berg ist als Jugendamts-Chefin dankbar für das Engagement des Kinderschutzbundes: „Wir haben eine Reihe von Kindern unter sechs Jahren, die wir nicht einfach in andere Einrichtungen geben können. Denen gibt der DKSB ein neues Zuhause.“ Eins in der größten Not.