Essen. Tief bewegt kehrten Schüler der Gustav-Heinemann-Gesamtschule von einer Fahrt nach Auschwitz zurück. Nun bereiten sie sich auf den Film „Shoah“ von Claude Lanzmann vor, in dem viele Zeitzeugen des Holocausts zu Wort kommen – neun Stunden lang.

Es ist eine Geschichtsstunde, die nie endet: Als die 23 Schüler der Gustav-Heinemann-Gesamtschule von ihrer Reise nach Auschwitz zurückkehren, hat sich ihr Blick auf die deutsche Vergangenheit für immer verändert. „Ich habe nie etwas erlebt, das mich so tief getroffen hat“, haben sie notiert, oder: „Weinen ist eine Möglichkeit“. Die Zitate stammen aus abendlichen Gesprächen, in denen sie Besuche in Gedenkstätten, Konzentrations- und Vernichtungslagern aufzufangen suchten.

Auschwitz – das ist keine Klassenfahrt, sondern eine Reise, die Lehrer und Schüler gemeinsam antreten; freiwillig und in den Herbstferien. „Im Unterricht beschweren sich einige Schüler: ,Nicht schon wieder Holocaust’“, sagt Religionslehrerin Regina Müller. „Diese Fahrt berührt das emotionale Verstehen; auch ich fahre nicht als Lehrerin mit, sondern als Mensch, der manchmal keine Antwort mehr geben kann.“

"Wissen und sehen, sehen und wissen"

Mit Fragen und Fassungslosigkeit kamen auch die Oberstufenschüler zurück. „Wir haben Fotos von jüdischen Familien gesehen, ihren Alltag, ihre Feiern. Da denkt man: Warum mussten diese Menschen sterben?“, erzählt Nadine (18). Es sei schwer zu beschreiben, wie ein Ort, wie Gegenstände sie so schmerzlich berührten, aber es stimme: „Dort wurden aus Zahlen Menschen.“ Koffer, Kinderspielzeug, Prothesen, „und unendlich viele Brillen, es war unbegreiflich“, sagt Larissa (18).

Selbstredend haben die Schüler zuvor im Unterricht über den millionenfachen Mord an Juden gesprochen, sie kennen Hollywoodfilme über den Holocaust, haben in Fernseh-Dokumentationen Leichenberge gesehen. Doch die menschlichen Haare in Auschwitz, „das geht so in einen rein, da wird man überrollt“, sagt Yasmin. „Kinderhaare, noch zu Zöpfen geflochten.“

Was die Schüler erlebten, beschreibt der französische Autor und Filmemacher Claude Lanzmann so: An den Orten des Verbrechens bekomme das Wissen über die Shoah eine emotionale Tiefe, durch die erfahrbar werde, was rational unvorstellbar bleibt. „Man muss wissen und sehen, und man muss sehen und wissen. Das eine ist vom anderen nicht zu trennen.“ Auf dieser Erkenntnis baut Lanzmanns Film „Shoah“ auf, der auf Schockbilder verzichtet, nur Zeitzeugen und Orte erzählen lässt – neun Stunden lang.

Schüler können keine Zeitzeugen mehr erleben

Der Film von 1985 beantworte alle Fragen, sagt Prof. Wilfried Breyvogel: „mit Wissen und Emotion“. Darum freut er sich, dass 43 Gustav-Heinemann-Schüler sich die Vorführung am Sonntag, 25. Januar, in der Lichtburg ansehen wollen; und zwar nicht nur diejenigen, die schon in Auschwitz waren. „Einen neunstündigen Film über den Holocaust – da haben sich meine Eltern schon gewundert“, sagt etwa der 17-Jährige Maximilian. Er habe Ausschnitte gesehen von dem polnischen Lokführer, der erzähle, wie er die Juden ins Vernichtungslager fuhr: „Das hat mich berührt, da sah ich schon die Bilder...“ „Kopfkino“, sagt Nazilenur, deren türkischstämmiger Vater ihr früh vom Nationalsozialismus erzählte. „Es macht mich neugierig, dass in diesem Film auch Täter zu Wort kommen. Was haben die nur gedacht?“ Diese Frage hat Tim und Anna schon in Auschwitz bewegt: „Wie kann der Kommandant neben dem KZ wohnen, mit der Familie?“

Ein Tag im Kino - Filmereignis mit Pausen und Gespräch

„Shoah“ wird am Sonntag, 25. Januar 2015, von 10.30 bis 24 Uhr (mit Pausen) in der Lichtburg gezeigt. 280 Schüler aus der Region bereiten sich derzeit auf den neunstündigen Film vor.

In Essen nehmen die Gustav-Heinemann-Gesamtschule, die Gesamtschulen Nord und Süd, Viktoria-, Goethe-, Leibniz- und Maria-Wächtler-Gymnasium teil.

Im freien Verkauf gibt es Karten für 10 Euro an der Kasse der Lichtburg (Kettwiger Straße) sowie unter 23 10 23. Infos zum Film und zum begleitenden Programm gibt es im Internet auf www.shoah-lichtburg.de

Die Schüler gehören einer Generation an, die kaum die Chance haben wird, selbst Zeitzeugen zu erleben. „Auch darum ist Shoah ein Vermächtnis,“ sagt Breyvogel. Ein Vermächtnis, für das noch nicht alle bereit sind, weiß Mariana: „Manche haben nur Ausschnitte gesehen und gesagt, das schaffen sie nicht.“

Claude Lanzmann lässt Zeitzeugen und Orte erzählen 

Der Film wird mit 30 Jahren Verspätung gezeigt, und doch zweifelt Wilfried Breyvogel nicht an der Wucht, die er auch auf heutige Zuschauer entfalten wird. Und darum hat sich der emeritierte Professor dafür eingesetzt, dass „Shoah“ am Sonntag, 25. Januar, in der Lichtburg gezeigt wird – erstmals in Deutschland in voller Länge von neun Stunden.

Der Franzose Claude Lanzmann hat fast zwölf Jahre an dem Monumentalwerk gearbeitet, mit dem er den „Genozid insgesamt und in seinen gigantischen Ausmaßen erfassen“ wollte. Sein Film ist das Gegenteil jener Doku-Fiction, mit der das Fernsehen das Grauen des Holocausts nacherzählt. Bei Lanzmann gibt es keine Bilder von Leichenbergen, keine Schocks, vielmehr lässt er Zeitzeugen sprechen – und zwar Opfer, Täter sowie Polen, die in der Nähe der KZs lebten.

Schöpfer des Films möchte der Vorführung beiwohnen

Der Film lasse uns das grauenhafte Geschehen erfahren, hat Simone de Beauvoir geschrieben: „in unseren Köpfen, in unseren Herzen, am eigenen Leib“. Das gelinge mit „erstaunlich sparsamen Mitteln“: Orten, Stimmen Gesichtern. Etwa das des polnischen Lokführers, der Juden ins Vernichtungslager Treblinka fuhr, „entsetzt über das Flehen, das er aus den Waggons hinter sich aufsteigen hörte“. So hat es Lanzmann in seinen Erinnerungen „Der patagonische Hase“ (2010) beschrieben, in denen die Arbeit an „Shoah“ naturgemäß breiten Raum einnimmt.

Die Lektüre hat Wilfried Breyvogel so bewegt, dass in ihm die Idee reifte, Shoah in Gesamtlänge zu zeigen. Einserseits sei das für Zuschauer eine „Zumutung“, andererseits ermögliche der Film eine emotionale Anteilnahme, die ihn auch Schülern zugänglich mache. Claude Lanzmann, dessen Werk vielfach preisgekrönt ist, aber selten gezeigt wird, reagierte sofort auf die Kontaktaufnahme: Wenn „Shoah“ am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zu sehen ist, wird auch Lanzmann in der Lichtburg sein