Duisburg-Rheinhausen. In einem Rheinhauser Wohnzimmer wächst seit 20 Jahren ein Weihnachtsdorf. Jetzt bewährt es sich auch als Lichtblick in schwierigen Zeiten.
Kontaktbeschränkungen? Keine Chance! Auf die Pandemie können Marlene und Günter Becker in diesem Fall nun wirklich keine Rücksicht nehmen. Bis Ende Januar geht es in ihrem Wohnzimmer an der Annastraße nämlich wieder rund. Das hat Tradition. Die beiden können nicht mal mehr zählen, wie viele Leute sich unter ihrem Dach tummeln. Es werden jedes Jahr mehr. Schlittschuh laufende Kinder, Spaziergänger, Familien, Marktbesucher, Polizei und Feuerwehr, ein Hochzeitspaar mit Gästen und Kapelle, Schneemänner, Rentiere – und der Weihnachtsmann ist natürlich auch wieder mit dabei.
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Was für ein Fest! Das Beste ist: Einen Mundschutz trägt hier niemand und wer krank ist, hat höchstens einen Schnupfen. In dem wunderbaren Weihnachtsdorf, das ihr Zuhause alle Jahre wieder rund um die Festtage zu etwas ganz Besonderem macht, gibt es kein Corona. Die Beckers machen sich ihre Welt ganz einfach so, wie sie ihnen gefällt. „Manchmal sitze ich hier und denke: In diesem Dorf würde ich gerne wohnen“, sagt Tochter Kira, die vor zwanzig Jahren den Grundstein für das Weihnachtshobby ihrer Eltern legte, als sie ihnen die ersten vier Lichterhäuser schenkte. „Ich konnte ja nicht ahnen, was daraus wird“, sagt sie und lacht.
Der Aufbau dauert mindestens eine Woche - diesmal sogar zehn Tage
Zehn schwere Kisten voller Zubehör gehören mittlerweile zur Sammlung. Nette Nachbarn mit jüngeren Beinen schleppen die Sachen für die 78 und 88 Jahre alten Senioren aus dem Keller in die erste Etage, wo die Miniaturen vor dem großen Wohnzimmerfenster im Erker ihren Platz in einer watteweichen Schneelandschaft bekommen. Der Aufbau dauert immer mindestens eine Woche. Diesmal waren es sogar zehn Tage. Denn bis jedes Detail seinen Platz gefunden hat, braucht es Zeit. Unter anderem deshalb, weil sich das Ehepaar nicht immer ganz einig ist, was denn wo und wie genau stehen soll.
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„Ja, wir hatten auch diesmal wieder Stimmung in der Bude“, sagt Günter Becker. Er meint das liebevoll; auch wenn die „Stimmung“ beim Aufbau der bunten Welt sowas wie die kleine Schwester von „Zoff“ ist. Richtig ernsthaft gezankt wird nicht, aber ein deftiger Wortwechsel darf schon sein, wenn es darum geht, wo denn nun der Mehrfachstecker für die Stromversorgung am besten platziert wird.
Für die Beleuchtung ist der Herr des Hauses zuständig, die Schneeflocken zupft Marlene Becker lieber selber aus dem großen Wattevorrat. Sie stellt auch die geschätzten 120 kleinen Zäune auf. Und die vielen neuen Laternen, die diesmal Premiere haben. Themenwelten, Häuser und Figuren werden gemeinsam arrangiert.
Dafür reicht die Fensterbank schon lange nicht mehr. Über die Jahre ist so viel Neues dazu gekommen, dass auf maßgeschneiderten Brettern angebaut werden musste. Neu dabei ist zum Beispiel auch „Stefans Sauna“. Das Holzhaus ist dem Schwiegersohn gewidmet, der sich eigentlich ein echtes Exemplar wünscht und nun mit seinem Namen in der Wunschwelt am Fenster verewigt ist.
Die strenge Bau-Abnahme erfolgt durch Tochter Kira
Wenn alles fertig aufgebaut ist, folgt der schwierigste Teil. Marlenes und Günters Wohnzimmerausstellung muss noch durch eine besonders strenge Kontrolle: die Bau-Abnahme durch Tochter Kira. Sie quittiert den humorvollen Seitenhieb ihrer Eltern mit einem Grinsen. „Da muss halt immer noch viel nachgebessert werden“, sagt sie. „Man kann doch wohl nicht die Schule neben einem Brauhaus aufbauen.“
Wer im echten Leben eine Gaststätte hat, der sieht das lockerer. Marlene und Günter Becker gehört das „Haus Ettwig“, das seit mehr als 110 Jahren eine Rheinhauser Institution ist. Die Eltern von Marlene machten einst aus ihrer Bäckerei die Kneipe, in der die Kruppianer früher immer freitags ihren „Lohntütenball“ feierten. 2014 haben die Beckers zuletzt selber am Zapfhahn gestanden. Heute ist die Gaststätte verpachtet, aber die beiden wohnen immer noch direkt über der Wirtsstube – in der „Bel Etage“ des Eckhauses an der Annastraße.
2020 blieb es zum ersten Mal dunkel im Wohnzimmer
Von der Straße aus ist das leuchtende Wintermärchen in Rheinhausen seit fast zwanzig Jahren zu sehen. Nur im vergangenen Jahr blieb es hier dunkel. Damals hatte Günter Becker eine Notoperation an der Hüfte, nach der er fast gestorben wäre. Die Familie war schon im Krankenhaus, um sich von ihm zu verabschieden, als er völlig unerwartet die Augen öffnete und sagte: „Was macht ihr denn alle hier?“.
Der 88-Jährige hat sich zurück ins Leben gekämpft. Ordentlich Kraft hat er, der früher Handball gespielt hat, in den Armen aufgebaut. Damit er vom Bett in den Rollstuhl kommt. Denn laufen wird er leider nie mehr können.
Die Beckers machen das Beste daraus. Tochter Kira hat durchgesetzt, dass das Weihnachtsdorf in diesem Jahr trotz allem wieder aufgebaut wird. Ihr Vater hat mit seinem Krankenbett einen Logenplatz am Fenster im Wohnzimmer bekommen. Und wenn ab 16 Uhr die Dämmerung einsetzt, dann wird die Zauberwelt für ihn und seine Frau zum Lichtblick: „Wir haben genug Dunkelheit in dieser Corona-Zeit.“ Es tut ihnen einfach gut, für eine Weile in die heile Märchenwelt einzutauchen.