Homberg. Die Duisburger Jahrbücher des Mercator-Verlags gelten als Klassiker. In der Ausgabe 2020 geht es ausführlich um die „Weißen Riesen“ in Hochheide.
Da waren es nur noch Fünf. Binnen weniger Sekunden hat sich an einem Sonntag Ende März die Silhouette der Stadt verändert. Auf einen Schlag, vielmehr auf einen Knall. 290 Kilogramm Sprengstoff waren nötig, um den 60 Meter hohen früheren Wohnklotz mit der Adresse Friedrich-Ebert-Straße 10-16 zu stürzen. Die Sprengung verlief laut Aussage von Sprengmeister Martin Hopfe erfolgreich.
Bereits im kommenden Herbst soll eine weitere leerstehende Schrottimmobilie, Ottostraße 24-30, auf ähnliche Weise dem Erdboden gleich gemacht werden. Laut Plänen der Stadt ist dann im kommenden Jahr ein weiterer Weißer Riese dran, die Zahl der höchsten Wohngebäude der ganzen Stadt hat sich dann halbiert.
Weißen Riesen: Der Weg zum sozialen Brennpunkt
Die Idee, Menschen von oben auf die Welt schauen zu lassen, begann in Deutschland in den frühen 1960-er-Jahren. Das Ruhrgebiet und auch die damals noch selbstständige Stadt Homberg waren geprägt von Zechenhäuschen. „Die waren sehr klein und vor allem unkomfortabel, sie hatten oft nicht einmal Badezimmer“, erinnern sich Udo Vohl und Reinhard Stratenwerth vom Verein Freundeskreis Historisches Homberg. Die Homberger sehnten sich nach mehr Komfort und die Stadtoberen offenbar nach mehr Großstadt. Und beschlossen 1969 den Neubau einen ganzen Quartiers. Ein Teil der Rheinpreußensiedlung wurde abgerissen und durch eine riesige Siedlung aus Mehrfamilienhäusern sowie einem Einkaufszentrum, der Ladenstadt Hochheide, ersetzt.
Josef Kun, ein in Deutschland gut vernetzter Baulöwe mit Wohnort Homberg, nahm sich seiner Heimatstadt an. Bis 1974 entstanden sagenhafte 2937 Wohnungen, die Zahl der Einwohner wuchs um ein Vielfaches, heute leben rund 15.000 Menschen in Hochheide. Josef Kun - er lebt heute hochbetagt in einer bayerischen Kleinstadt - rannte mit seinen Hochhausplänen bei der Stadt offene Türen ein, die Idee des modernen Lebens im Hochhaus kam gut an. Proteste wegen der abgerissenen Zechenhäuschen blieben aus. „In den Häusern zu leben galt als schick, vom Bankdirektor bis zur Rotlichtgröße waren nahezu alle Schichten vertreten“, erzählt Udo Vohl.
Duisburg: Der Bauherr ging spektakulär pleite
Josef Kun, hatte sich derweil schon während der Bauphase finanziell übernommen, sein Unternehmen ging pleite. 3500 Arbeiter standen im Juli 1973 auf der Straße, Kun soll gewaltige 560 Millionen Mark Schulden angehäuft haben. Seine Baustellen führten dann andere zu Ende, die Hochheider konnten einziehen. Eine Zeit lang galt Hochheide als Wohlfühl-Stadtteil, „wir wohnten in einem der weißen Riesen und kannten sämtliche Nachbarn. Wie konnten sogar die Wohnungstüren offen lassen“, sagt ein Mann, der heute in Moers wohnt und eine glückliche Kindheit in Hochheide verbrachte.
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Wann genau die Stimmung in Hochheide kippte, ist so genau nicht zu belegen. Bürger, aber auch Politiker aus dem Stadtteil machen unter anderem Immobilienspekulanten mitverantwortlich für den Niedergang. So mancher Hochheider konnte sich sein Quartier nicht mehr leisten. Viele Gutbetuchte zogen zudem weg, so hip war das Hochhaus-Leben dann irgendwann eben doch nicht mehr. Die Folge: Es kamen zunächst Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg, inzwischen leben Menschen aus mehr als 80 Nationen hier. „Die Mischung stimmte nicht mehr“, heißt es, wenn man sich in Hochheide umhört. Viele Senioren im Viertel beklagen sich über die vielen Ausländer, immer mehr zunehmenden Leerstand von Ladenlokalen, Dealer und Randalierer auf dem Bürgermeister-Bongartz-Platz und die immer schlimmer werdende Vermüllung.
Es folgten diverse Runden mit Stadt, Politik und Vermietern mit dem Ziel, den Stadtteil wieder aufzuwerten. Dabei ging es um die Verbesserung der Aufenthaltsqualität, das Schaffen von mehr Sicherheit und auch um den etagenweisen Rückbau von Hochhäusern. Konkret wurde letztlich keine dieser Ideen, es reifte die Idee, leerstehende Hochhäuser zu sprengen. Um Fördergelder des Landes bekommen zu können, erklärte der Stadtrat den Kern von Hochheide zum Sanierungsgebiet, 17 Millionen Euro Fördergelder, sprich Steuergelder, flossen so von Düsseldorf nach Duisburg-Hochheide. Das Geld sollte knapp ausreichen für den Rückbau dreier „Riesen“, pro Abriss rechnet die Stadt mit fünf bis sechs Millionen Euro.
Jede Menge Sperrmüll musste aus der Ruine geschafft werden
Bis es zur ersten Sprengung, die bekanntlich nur wenige Sekunden dauerte, kam, sollte es Jahre dauern, jede Menge Hindernisse mussten genommen werden. Es begann mit der Entrümpelung der 320 Wohnungen samt Kellerräumen. So mancher Mieter muss das Gebäude nach dem Leerzug am 30. April 2011 fluchtartig verlassen haben. Die Entsorger schleppten ganze Wohnungseinrichtungen nach unten, dazu fanden sie grob geschätzt 20.000 leere Plastikflaschen, hunderte Autoreifen, etliche Fahrräder und auch 200 Schallplatten. „Insgesamt stießen wir im Zuge der Sprengvorbereitungen auf 800 Tonnen Sperrmüll“, so Projektleiter Marc Sommer.
Die Entrümpelung ging vergleichsweise schnell, die Schadstoffsanierung sollte sich dagegen lange hinziehen. Im Wandputz fand sich Asbest, der mit einem Spezialverfahren abgespritzt und unter großen Sicherheitsvorkehrungen entsorgt werden musste. Der ursprüngliche Sprengtermin 3. September 2017 fiel aus, die Vorbereitungen dauerten letztlich bis März 2019. Am Sonntag, 24. März, wenige Sekunden vor 12 Uhr, drückte Martin Hopfe auf den Auslöser und das Gebäude sank in sich zusammen.
In Düsseldorf wäre ein Abriss wohl tabu
Die Sprengung von Duisburgs größtem Wohnhaus wurde live im Fernsehen übertragen, auch NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) schaute vorbei. In Städten wie Münster, Düsseldorf oder Köln würde Wohnraum dringend gebraucht, in Duisburg dagegen sprenge man sehr gute Bausubstanz, lautete die Kritik an der Vorgehensweise von Stadt und Land. Die Ministerin bekräftigte, dass ein solches Haus in den genannten Städten sicher nicht abgerissen würde, „hier muss aber nun einmal nicht mehr benötigter Wohnraum zurückgebaut werden“, sagte sie kurz vor dem großen Knall. Und es sollen laut Ratsbeschluss zwei weitere Sprengungen folgen.
Mit einem Teil des Schutts sind inzwischen wenige hundert Meter weiter Wälle errichtet worden. Ottostraße 24-30 lautet die nächste Adresse, die es bald nicht mehr geben soll. Dieses Haus steht seit Anfang des Jahrtausends leer, es heißt im Volksmund „größter Taubenschlag Deutschlands“. Das Gelände ist längst eingezäunt, das Viersener Abbruchunternehmen, das bereits den ersten Weißen Riesen kleingekriegt hat, hat auch an der Ottostraße bereits geflaggt: „Wenn wir hier fertig sind, wird es richtig schön.“
Wie geht es weiter im Quartier?
Wie geht es aber weiter mit dem Viertel, dessen Zustand so viele Bewohner beklagen? Oberbürgermeister Sören Link (SPD) erhofft sich durch die Sprengungen nach dem „Trading down-Effekt“ der vergangenen Jahre, nun einen „Trading up-Effekt“. Das Viertel soll weiter aufgewertet werden, der Bau von Wohnungen ist dabei tabu, auf dem Areal soll ein Park entstehen. Viele Hochheider fürchten dabei nichts so sehr, wie einen weiteren Angstraum, sehen die Idee nur dann positiv, wenn der Park gepflegt und bewacht würde.
Hochheides Weiße Riesen, Stadt und Bewohner hoffen auf eine positive Zukunft des Quartiers. Das Leben im Hochhaus scheint inzwischen so gar nicht mehr in Mode zu sein. Gut zu beobachten ist dies im noch bestehenden Teil der Rheinpreußensiedlung unweit der Wohntürme. Das Leben in den alten Zechenhäuschen ist sehr beliebt, dass dies in Homberg heute noch möglich ist, haben die Menschen dort vor allem sich selbst zu verdanken. Ursprüngliche Pläne sahen nämlich vor, auch den zweiten Teil der Rheinpreußensiedlung für den Hochhausbau zu opfern.
Doch machten das die Rheinpreußensiedler Ende der 1970-er-Jahre nicht mit. Es gab große Proteste, sogar einen Hungerstreik. Letztlich nahmen die Planer von der Idee Abstand, die Siedlung blieb stehen. So sind heute in Hochheide gleich zwei Architektur-Epochen unmittelbar nebeneinander zu bewundern. Die Bebauung, zur Zeit, in der Homberg Großstadt werden wollte und die davor. Und eben auch die danach.
In Duisburgs Nachbarstadt Düsseldorf entstehen übrigens aktuell wieder Wohnhochhäuser von zehn Etagen und mehr. Sie sind weiß...
Das Duisburger Jahrbuch 2020
Das Duisburger Jahrbuch des Mercator-Verlags (ISBN 978-3-946895-27-5; 16,90 Euro) ist im Buchhandel und auch online erhältlich. Beim Verlag selbst, er sitzt Dammstraße 25, in Ruhrort, gibt es das Buch aber auch. Hier ist zudem jede Menge weitere regionale Literatur zu bekommen. Kontakt: www.mercator-verlag.de.
Weitere Themen aus dem Jahrbuch: Woodstock am Niederrhein – das Mai-Out in Friemersheim; Phoenix aus der Asche – der Neuaufbau Duisburgs nach dem Zweiten Weltkrieg; Radfahren in Duisburg – utopische Realität? Die Leiden des jungen Remarque; Portrait Graffiti-Künstler Marten Dalimot.