Duisburg-Homberg. . Die Briten sollten beim Referendum am 23. Juni für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union stimmen, rät Robert Tonks, Vorsitzender der Deutsch-Britischen Gesellschaft beim Interview in Homberg.
„Leave it“ or „Remain“?, gehen oder bleiben? - Das ist hier die Frage. Denn am 23. Juni werden die Briten entscheiden, ob Großbritannien Mitglied der Europäischen Union bleibt oder die EU verlässt. Der Brite Robert Tonks (61) wuchs im Südosten von Wales auf, lebt seit genau 40 Jahren in Duisburg. Tonks, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, arbeitet als stellvertretender Leiter der Stabsstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik der Stadt Duisburg im Bezirksrathaus Homberg und ist Vorsitzender der Deutsch-Britischen Gesellschaft Duisburg. Im Interview mit Martin Krampitz begründet Tonks, warum er als Privatmann für den Verbleib Großbritanniens in der EU ist.
Welche Gründe gibt es für einen Verbleib der Briten in der EU?
Robert Tonks: Mehr als 70 Jahre Frieden und Stabilität, das hat es nie zuvor in Europa gegeben. Ich leite das so her: Frieden schafft Stabilität, Stabilität braucht man für Wohlstand, Wohlstand schafft Arbeitsplätze. In diesem Sinne sind wir alle „Friedensgewinnler“. Viele Briten meinen, uns wird nichts passieren, selbst wenn wir tatsächlich aus der EU austreten. Beispiel: Viele denken, die Deutschen werden auch weiter wie bisher ihre vielen Pkw nach Großbritannien exportieren. Ich halte diese Sichtweise für etwas kurzsichtig. Denn für Großbritannien ist es unmöglich, alle bilateralen Verträge mit den anderen EU-Staaten kurzfristig zu kündigen und nachzuverhandeln. Das macht keinen Sinn. Da verlieren die Briten viel Geld, Zeit und Rechtssicherheit für ihre Märkte. So schafft man Unsicherheit.
Welche Argumente sprechen für einen „Brexit“, einen Ausstieg der Briten aus der EU?
Tonks: Keine. Das Hauptargument der EU-Gegner für den Austritt ist: „Wir holen einen Teil unserer Souveränität zurück und können dann wieder unsere eigenen Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen werden dann nicht mehr von irgendwelchen EU-Bürokraten in Brüssel getroffen.“ Damit fallen die EU-Gegner gedanklich zurück in längst vergangene Zeiten. Dahinter steckt ein tief empfundenes Wunschdenken und ein wenig Nostalgie, die Erinnerung an das alte Empire, das frühere Weltreich. Die „Brexit“-Befürworter sind meist weiß, männlich und chauvinistisch. Sie sagen nicht, wie sie die gewonnene Souveränität nutzen wollen. Es würde das Leben der Briten nicht von heute auf morgen verändern, es würde ein langer Prozess werden. Ende offen.
Wir erleben seit Jahren ein Erstarken rechtspopulistischer Parteien in den meisten Ländern Europas, in Deutschland mit der AfD. Welche Folgen könnte vor diesem Hintergrund ein „Brexit“ für die gesamte Europäische Union haben?
Tonks: Den Ausdruck „Brexit“ benutze ich selbst nicht gern, weil er den Ausgang des Referendums am 23. Juni schon antizipiert, vorwegnimmt. Aber ein Austritt Großbritanniens könnte in Europa Nachahmer finden. In diesem Fall könnte eine Kettenreaktion in Gang kommen. Wenn eine Fragmentierungsbewegung in Gang kommt, haben wir ein echtes Problem, ein Konfliktpotenzial vom Feinsten. Sicher scheint mir schon jetzt: Es wird vorläufig keine „Vereinigten Staaten von Europa“ geben, denn dafür sind wir nicht vorbereitet. Wir sind ja heute noch weit davon entfernt, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungs- oder Finanzpolitik zu realisieren.
Welche Prognose geben Sie für die Abstimmung am 23. Juni in Großbritannien? Wie wird das Rennen ausgehen?
Tonks: Das Ergebnis wird genauso eng werden wie bei dem Referendum über die schottische Unabhängigkeit vor zwei Jahren. Damals habe ich kurz vor der Abstimmung gesagt, die Schotten bleiben mit einem Ergebnis von 60 zu 40 Prozent Mitglied Großbritanniens, doch meine Frau war vom Gegenteil überzeugt (lächelnd). Am Ende haben sich die meisten Schotten für einen Verbleib im United Kingdom entschieden. Diesmal könnte es wieder so ausgehen. Es gibt ein immer größer werdendes Phänomen: Die steigende Zahl der Menschen, die sich erst in letzter Sekunde entscheiden. Das macht es so schwer, den Ausgang einer Wahl oder Abstimmung vorherzusagen.
Seit den 1980er Jahren, der Regierungszeit von Prime Minister Margret Thatcher, wurden zehntausende Jobs im Bergbau, der Stahlindustrie und der Autoindustrie abgebaut. Wie ist die britische Wirtschaft heute aufgestellt?
Tonks: Nach wie vor gibt es eine starke verarbeitende Industrie, Maschinenbau, Elektrotechnik, chemische und pharmazeutische Industrie. Auch die Autoindustrie ist immer noch stark, bietet Briten viele Arbeitsplätze, nur dass fast alle Autofabriken ausländischen Konzernen gehören, Ford, Nissan, General Motors (Vauxhall) oder BMW (Rolls Royce). Der Dienstleistungs- und Finanzsektor ist seit den 1980er Jahren stark gewachsen, liegt heute bei zehn Prozent des Bruttoinlandproduktes. Der Tourismus und die Agrarwirtschaft boomen weiter in Großbritannien.