Duisburg. Der Duisburger Pferdezahnarzt Marius Keussen praktiziert auf Gut Postenhof. Es ist ein Job zwischen Diamanten und Pferdesabber.
Ist schon gemein, wenn einem das Futter aus dem Maul geklaut wird. Aber Crispys Zurückweichen bringt dem braunen Wallach nichts: Der Pferdezahnarzt zieht seine Lippen zu einer komisch anmutenden Grimasse hoch, greift in den Schlund und befördert angekaute Strohhalme zutage. Begleitet von einem Strahl gelb-braunen Pferdesabbers rieseln sie zu Boden.
Stirnlampe auf dem Kopf, Schleifer in der einen Hand. die anderen Hand im Pferdemaul: Marius Keussen wirkt wie eine Mischung aus Cowboy und Höhlenforscher. Gar nicht so falsch: Die Höhlen, deren Tiefen er ausleuchtet, verbergen sich zwischen den Kiefern von Pferden. Der Mann mit den schulterlangen, schwarzen Haaren, dem nach oben gezwirbeltem Schnauzbart und den blitzenden blauen Augen ist der Mann, der dem Gaul ins Maul schaut: Er ist Pferdezahnarzt.
2000 bis 2500 tierischen Patienten schleift er jedes Jahr die Beißer ab. Die Arbeit in der Praxis hat der gelernte Tierarzt drangegeben; seit 15 Jahren konzentriert er sich ganz auf Pferdezähne. Gibt es heute von Tierdermatologen bis zu Tierphysiotherapeuten etliche Fachrichtungen, war Keussen im Jahr 2000 ein Pionier auf seinem Gebiet. Vollzeit Pferdezahnarzt, das ist heute noch selten: Ein Dutzend reiner Pferdezahnärzte, schätzt er, gebe es bundesweit. Kein Wunder, dass Keussen nicht nur auf Gut Postenhof praktiziert: Gestüte und Turnierreiter aus ganz Deutschland vereinbaren Termine bei ihm, auch im Ausland sperren Pferde für ihn das Maul auf.
Beim Zahnarzt müsste man Pferd sein: Gebohrt werden muss fast nie
Den Futterdiebstahl hat sich Crispy halbwegs gefallen lassen. Dass der Zahnarzt jetzt mit dem Endoskop seine Backenzähne ausleuchtet, schmeckt ihm nicht. Trotz Maulgatter, das seine Futterluke eine Handbreit aufsperrt, flackern über Keussens Laptop nur verschwommene Bilder. An den Einsatz von schleifendem Gerät ist so nicht zu denken.
Dabei wäre beim Zahnarzt so mancher Mensch gerne ein Pferd: Die Standardbehandlung ist nach 20 Minuten vorbei und tut nicht weh, gebohrt werden muss fast nie. „Pferdezähne sind anders gebaut“, erklärt Keussen. Inklusive Wurzel misst ein Pferdezahn an die zehn Zentimeter – fünfmal so viel wie ein menschliches Kauwerkzeug. Weil die Nervenenden ein gutes Stück von der Kaufläche weg bleiben, schmerzt die Routinebehandlung nicht. Da macht es dem Tier nicht viel aus, wenn es einmal im Jahr seine Hufe zum Pferdezahnarzt schwingen muss.
Pferde mahlen ihr Kauwerkzeug zwei bis vier Millimeter pro Jahr ab
Wobei der Titel Pferdezahnarzt in die Irre führt. „Ich arbeite viel mehr kieferorthopädisch als zahnmedizinisch“, sagt Keussen. Er kümmert sich mehr um Kiefer als um Karies: Zwei bis vier Millimeter mahlt ein Pferd seine Kauwerkzeuge pro Jahr ab, die meisten Löcher wachsen auf natürliche Weise heraus. Sitzt der Oberkiefer aber schief auf dem Unterkiefer, greifen die Zähne statt aufs Gegenüber ins Leere.
Ungehindert wachsen sie weiter und müssen abgeschliffen werden. Ebenmäßige Zähne beim Pferd sind keine Frage eines strahlenden Lächelns, sondern der Gesundheit des Tiers: Mahlen nicht alle Zähne gleichmäßig, verspannt sich womöglich der ganze Körper. Eine Erkenntnis, die erst durch die Spezialisierungen innerhalb der Tierärzte möglich wurde, verdeutlicht Keussen: „Vor 25 Jahren ging’s nur darum, scharfe Kanten wegzumachen.“
Diamanten sorgen für den richtigen Schliff
Es surrt und gurgelt wie ein sich verschluckender Abfluss, als Keussen seine Arbeit macht. Zahnstaub wabert an Crispys linker Wange empor in die Luft wie Rauch. Die Schwaden sind das Ergebnis des Schleifers, mit dem Keussen über die Backenzähne fährt: eine Scheibe, klein wie eine Zwei-Euro-Münze, aber wertvoller – den Schliff geben Gerät und Zahn zahllose winzige Diamanten auf der Oberfläche. Zwischendurch setzt Keussen den Schleifer ab und seine blaubehandschuhten Finger auf die Zähne. „Eine Kante kann ich viel besser fühlen als sehen.“
Dass Pferde einen Zahnarzt brauchen, verdanken sie dem Menschen. Der hat zwar nicht die Tiere verweichlicht, wohl aber ihr Futter: „Die Tiere in der Steppe fressen 18 Stunden am Tag langes, hartes Gras“, beschreibt Keussen das Leben in freier Wildbahn. Das zahme Reittier im Stall bekommt dagegen weiches „Zivilisationsfutter“ serviert, wie Keussen es nennt. Der Pferdezahnarzt muss dem natürlichen Abschliff mit seinem Werkzeug nachhelfen.
Dem natürlichen Abschliff nachhelfen
Am Ende der Behandlung, als Crispys Maul wieder zu ist, packt Keussen mit beiden Händen Ober- und Unterkiefer und reibt sie gegeneinander. „Das ist der richtige Ton“, freut er sich. Auch sein Patient ist erleichtert: Alles in Ordnung. Und das ganz ohne Bohren.