Duisburg-Marxloh. . Sie wurden oft Opfer. Sie wollen nicht mehr tatenlos zusehen. Dies ist die Geschichte der rumänisch-bulgarischen Nachbarschaft, die sich wehrt.
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Jedes Mal beginne es mit einem Klopfen. Einem lauten, bestimmten, brutalen. So eindringlich, dass es wie ein Befehl klinge. Wer es einmal gehört hat, der vergesse es nie. Lamina Marins Hände verkrampfen, während sie spricht. Die Rumänin sucht Halt. Fest drücken ihre Fingerkuppen gegen die hellbraune Tischplatte. Dreimal schon hat es bei ihr geklopft. Dreimal ist ihr der Schauer über den Rücken gelaufen. Beim ersten Mal hat sie die Wohnungstür nur einen Spalt breit geöffnet. Ganz vorsichtig, um nachzusehen, wer die Person mit der harschen Stimme ist, die sie kaum verstehen kann. Doch der Fremde war schneller. Noch bevor sie etwas sagen konnte, habe sich der klobige Männerschuh zwischen Tür und Rahmen geschoben. Ausgeliefert. An die Taskforce.
Task|force, die
Für eine begrenzte Zeit gebildete Arbeitsgruppe – mit umfassenden Entscheidungskompetenzen – zur Lösung komplexer Probleme [Quelle: Duden]
Der Begriff Taskforce stammt ursprünglich aus der US-amerikanischen Militärsprache. Im Herbst 2016 wurde die Taskforce der Stadt Duisburg gegründet. Unter der Leitung des Ordnungsdezernates hat die Einsatzgruppe den Kampf gegen die Schrottimmobilien im Duisburger Norden aufgenommen. Den Kampf gegen „ein kriminelles Geschäftsmodell der Vermieter“, wie Oberbürgermeister Sören Link es in einem Interview beschrieb.
Die Masche: Bitterarme Menschen aus Südosteuropa werden von den Vermietern gezielt nach Duisburg gelockt und in überbelegten Bruchbuden untergebracht. Weit über 10 000 Rumänen und Bulgaren sollen derzeit in der Stadt leben. Viele wurden Opfer skrupelloser Immobilienbesitzer: Mit Schein-Arbeitsverträgen versorgt, sollen sie aufstockende Leistungen beim Jobcenter beantragen.
„Das Geld fließt aber zu den Vermietern, die es jeden Monat von den Konten ziehen“, erklärte die erste Taskforce-Chefin und damalige Ordnungsdezernentin Daniela Lesmeister. Sie wollte den kriminellen Abzockern das Handwerk legen. Damit machte sie Karriere. Nach den Landtagswahlen im September stieg Daniela Lesmeister als erste Frau an die Spitze der Polizei ins NRW-Innenministerium auf. Die Rumänin Lamina Marin fiel mit ihrer Familie ins Nichts.
Die vielen „Männer von der Stadt“
Lamina erinnert sich nicht genau, von welcher Behörde der Mann kam, der zuerst klopfte. Es sind ja auch so viele, die in der Taskforce mitwirken: Rechtsamt, Bürger- und Ordnungsamt, Feuerwehr und Zivilschutzamt, Amt für Soziales und Wohnen, Jugendamt, Gesundheitsamt, Amt für Stadtentwicklung und Projektmanagement, Amt für Baurecht und Bauberatung, das Büro des Oberbürgermeisters, die Polizei, Stadtwerke, die Wirtschaftsbetriebe Duisburg. Obendrauf kommen Steuerfahndung und Zollbehörde.
Für Lamina Marin und die anderen Roma in Marxloh sind es „die Männer von der Stadt“, vor denen sie sich fürchten. Irgendwann stehen sie unangekündigt vor der Tür und verlangen Zutritt. „Sie kontrollieren, sie machen Fotos. Sie machen sich viele Notizen. Sie wollen alle Papiere sehen.“ Lamina Marin war beim ersten Mal allein zu Hause. Ihr Mann habe die Kinder zur Schule gebracht, als der Fremde plötzlich mit einem Fuß in der Tür stand. Noch immer bebt ihre Stimme, wenn sie sich daran erinnert. Doch irgendwann sei der Mann gegangen. Die Anspannung fiel ab.
Was genau der fremde Mann von der Stadt eigentlich aufgeschrieben hat, das wurde ihr erst einige Tage später bewusst. Da kam er wieder – und diesmal nicht allein.
Wohnungsaufsichtsgesetz NRW, § 2, Absatz 1:
Die Gemeinden haben nach den Bestimmungen dieses Gesetzes auf die Beseitigung von Missständen an Wohnraum hinzuwirken.
Dieses Gesetz, das im April 2014 in Kraft trat, ist das schärfste Schwert der Taskforce. Es ermöglicht den Behörden, ganze Häuser aufgrund baulicher Mängel für unbewohnbar zu erklären. In den meisten Fällen sind es Brandschutzgründe, welche die Taskforce geltend machen kann.
Bei den Marins seien es die fehlenden Rauchmelder im Haus und die Holztreppe im Flur gewesen. Das zumindest haben sie sich nach der Räumung erklären lassen. Denn als „die Männer von der Stadt“ eines Vormittags erneut unangekündigt wiedergekommen seien, da habe man ihnen keine Zeit für viele Fragen gelassen. Da sei alles ganz schnell gegangen. Nur etwa eine Stunde habe die Familie Zeit gehabt, die nötigsten Sachen zu packen, bevor sie aus der Wohnung musste. Lamina und ihr Mann Octavian haben das Nötigste und Teuerste eingepackt: Kleidung, den Fernseher, ein paar Schulsachen für die Kinder, Waschzeug.
So grausam es klingt: Mittlerweile haben die Marins Routine beim fluchtartigen Packen. Dreimal innerhalb von vier Jahren musste die Familie ihre Wohnung bereits aufgeben.
räu|men, schwaches Verb
Bedeutung: einen Ort, einen Platz (auf eine Aufforderung hin, unter Zwang) verlassen [Quelle: Duden]
Lamina sagt nicht, dass sie ihre Wohnung räumen musste. Lamina sagt: „Wir wurden geräumt.“ Wie weggeräumt. Zuletzt in die graue Hoffnungslosigkeit einer verlassenen Sporthalle. Eine Notunterkunft mit harten Pritschen und alten Feuerdecken anstelle von Bettzeug.
Die Nachbarn haben es geschafft, bei Freunden oder Verwandten in anderen kleinen Wohnungen unterzukommen – die dann natürlich auch überbelegt waren. Doch Lamina, ihr Mann und die Kinder fanden auf die Schnelle keine Zuflucht. Während die Stadt in Marxloh den Weihnachtsbaum aufstellte, standen die Marins ohne Herberge vor den Scherben ihrer Träume.
„Wir gehen nicht gegen eine Ethnie, sondern gegen ein kriminelles Geschäftsmodell vor, gegen einen lebensgefährlichen Missstand für die Menschen“, beteuerte Oberbürgermeister Sören Link im Interview 2016. Den südosteuropäischen Migranten in Marxloh, die davon betroffen sind, kommt das anders vor.
„Lag es wirklich nur an der Holztreppe?“ Octavian Marin steht im Flur des Petershofes. Das Sozialpastorale Zentrum rund um die katholische Kirche St. Peter ist die Anlaufstelle für die Ärmsten der Armen in dem bundesweit als „No-go-Area“ stigmatisierten Stadtteil Marxloh. Hier gibt es Deutschkurse, warmes Essen, Waschmaschinen – Hilfe für alle. Octavian Marin legt seine Hand auf das Treppengeländer im Flur. „Ist das hier denn kein Holz?“, fragt er. „Wo ist der Unterschied?“ Der 49-Jährige und die anderen Roma verstehen nicht, dass die Marxloher Häuser, die fast noch besser sind als viele in ihrer Heimat, nicht bewohnt werden dürfen.
Schrott|im|mo|bi|li|e, die
Immobilie, die nichts oder nur wenig wert ist [Quelle: Duden]
Seit das Haus an der Gillhausenstraße, in dem die Marins bis Ende November gewohnt haben, von der Taskforce geräumt wurde, leben die Nachbarn in Sorge. Doch sie wollen nicht hilflos zusehen. Sie wollen sich nicht als Opfer fühlen, sagen sie. Deshalb haben sie sich zusammengeschlossen: zu einer Nachbarschaftsinitiative, die sich wöchentlich in einem kleinen Seminarraum am Petershof trifft und berät, was sie selbst tun können, um die Situation zu verbessern.
Viele Familien sind gekommen. Eltern und Kinder. „Ich kann verstehen, wie sich die Familien fühlen, wenn sie mir den kleinen Kindern einfach rausgesetzt werden“, sagt Güllü Stefanova. Die 34-jährige Bulgarin ist selbst Mutter zweier Kinder. „Ich habe Angst“, sagt sie. „Was soll denn dann werden?“
Einige Ehrenamtliche aus dem Petershof sprechen ihr und den anderen in einem Gemisch aus Rumänisch und Bulgarisch Mut zu. „Nicht verzweifeln, auch Ihr habt Rechte als Mieter. Wir kümmern uns um Juristen.“ Vor allem aber kümmert sich die Initiative mit vereinten Kräften um die kleinen Dinge, die sie in den Häusern verbessern können. Vor einigen Tagen haben sie gemeinsam Rauchmelder in ihren Häusern angebracht.
Auf einer Facebook-Seite berichtet die ehrenamtliche Helferin Sylvia Brennemann von den Fortschritten. 210 Likes hat die Seite bereits – doch es hagelt auch Beschimpfungen. Am 13. Dezember schrieb ein Kommentator: „Ich habe keine Lust, von Zigeunern angebettelt zu werden, die hier unberechtigterweise ihre Taschen voll machen! Kümmer’ dich um deutsche Obdachlose du Vollpfosten!“
An|ti|zi|ga|nis|mus, der
Bezeichnet die Abneigung oder Feindschaft gegenüber Sinti und Roma
[Quelle: Duden]
Die Diskriminierung von Sinti und Roma hat nicht erst im Dritten Reich begonnen. Schon lange vor dem Völkermord der NS-Zeit war sie in Köpfen und Gesetzen präsent. Verschwunden ist sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Der Historiker Wolfgang Benz hat sich intensiv mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts beschäftigt. In seinem Buch „Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord“ schreibt er: „Die alten Vorurteile wirkten weiter, und so bestand die stillschweigende Übereinkunft, ,die Zigeuner’ seien eigentlich zu Recht verfolgt worden, denn sie seien von ihrer Konstitution her asozial und kriminell.“ Die Facebook-Kommentare mit den wüsten Beschimpfungen, die Sylvia Brennemann meist umgehend löscht, zeugen davon, dass sich an den stereotypen Vorverurteilungen bis heute nicht viel geändert hat.
Antonella Cîrpaci versteht zum Glück nicht viel von den Vorurteilen, die ihr und den anderen entgegenschlagen. Antonella wurde in Rumänien geboren. Sie spricht nur ganz wenig Deutsch, aber sie versteht Tonfälle, Gesten, Blicke.
Das Haus, in dem Antonella Cîrpaci lebt, war das erste, das die Initiative mit Brandmeldern ausgestattet hat. Es ist ein Mietshaus mit alter Backsteinfassade an der Rudolfstraße 22. An sonnenlosen Dezembertagen türmen sich die einst roten Klinker zu einer braun-verwitterten Kulisse der Tristesse auf. Ein Gerücht geht um, dass die Taskforce bald auch hier klopfen wird. „Ihr müsst gar nicht so entsetzt gucken. Wenn Weihnachten vorbei ist, dann kommen wir auch zu Euch.“ Diese Worte soll ein Mann der Taskforce gesagt haben, erzählt Antonella. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das düstere Gerücht in der Nachbarschaft. Antonella starrt einige Sekunden wortlos auf die grüne Fototapete in ihrer Wohnküche. Dann geht sie zur Arbeitsplatte und füllt eine Kanne mit Wasser. „Kaffee?“
Als die Tassen gefüllt sind, erzählt Antonella aus ihrem Leben. Sie ist 39 Jahre alt, verheiratet, vierfache Mutter und seit Kurzem auch Großmutter. Ihr erwachsener Sohn war es, der als Erster der Familie den Mut hatte, wegzugehen. Die westrumänische Heimatstadt Lugoj und die Armut, in der sie dort lebten, wollte er für hinter sich lassen. Antonella, ihr Mann und ihre drei anderen Kinder folgten vor knapp anderthalb Jahren. Damals starben die Schwiegereltern, in deren Haus die Familie bis dahin hatte leben dürfen. Der Bruder ihres Mannes zog ein – für Antonella, die nicht mehr wusste wohin, klang Deutschland wie ein Paradies.
Nied|rig|lohn|land, das
Land, in dem vergleichsweise niedrige Löhne gezahlt werden [Quelle: Duden]
Jahrelang hat Antonella zuvor für eine deutsche Schuhfirma in Rumänien genäht. „Mindestens acht Stunden am Tag, aber zwischendurch höchstens eine zehnminütige Pause.“ 150 Euro habe sie im Monat verdient. Viel zu wenig zum Leben. Denn Lebensmittel sind in rumänischen Supermärkten nicht billiger als in deutschen.
Die erste Wohnung, die Antonella und ihr Mann in Duisburg fanden, war in einem schlimmen Zustand. „Es gab im Badezimmer keine Toilette, keine Dusche. Das haben wir alles selbst einbauen müssen“, sagt Antonella. Irgendwie hat sie sich damit anfangs arrangiert, sie war glücklich, in Deutschland angekommen zu sein. Doch das größte Problem war der fehlende Strom in der Wohnung und die Enge. Trotzdem sollten sie 300 Euro zahlen. Irgendwann hielt es die Familie nicht länger aus. Sie fand die Erdgeschosswohnung an der Rudolfstraße und zog um.
In dem neuen Heim haben sie es sich mit den wenigen Mitteln, über die sie verfügen, so gemütlich wie möglich eingerichtet. An der Wand in der Wohnküche hängt ein gerahmtes Modeplakat mit dem stolzen Blick eines Models. Im großen Fernseher – der ganze Stolz der Familie – laufen nebenbei rumänische Filme. Während die Kinder noch in der Schule sind, will Antonella schnell das Mittagessen vorbereiten.
Mulțumesc pentru cafea.
Danke für den Kaffee.
Antonella Cîrpaci lächelt. Zum ersten Mal während des Gespräches. „Die Deutschen sind immer sehr höflich“, sagt sie. Trotz allem. Hoffnungsvoll.