Duisburg/Castrop-Rauxel. . Die Schrift an ihrem Stern mag verblichen sein, die Erinnerung ist es nicht. Zum zweiten Jahrestag des Loveparade-Unglücks werden heute viele an die 22-jährige Svenja aus Castrop-Rauxel denken. Sie zählt zu den 21 Todesopfern.

Es gibt Tage in ihrem Leben, da kann sie schon wieder fröhlich sein. Kann sogar lachen, Glücksmomente empfinden und positiv in die Zukunft schauen. Und dann gibt es Tage, die sind voller Schmerz und Trauer, voller Wut und Hilflosigkeit. Dann hat Claudia Reißaus (49) Bilder vor Augen, die so weh tun, dass es sie zerreißen könnte. „Es ist ein ständiges Auf und Ab“, sagt sie. Ein Wechsel von guten und schlechten Tagen. Heute wird ein schlechter Tag. Einer der schwersten. Wenn nicht gar der schwerste dieses Jahres. Denn heute wird Claudia Reißaus an jenem Ort stehen, wo ihre Tochter Svenja gestorben ist: Genau heute vor zwei Jahren - bei der Loveparade in Duisburg.

Claudia Reißaus hat Angst vor diesem Tag. Angst vor dem Besuch des Ortes, wo es passiert ist. „Genau an der Treppe, wo alle versucht haben, nach oben zu kommen“, weiß sie. Die 49-Jährige hat Angst davor, wie schon im letzten Jahr diesen Unglücksort zu besuchen. Sie hat Angst vor dem Film, der immer wieder in ihrem Kopf ablaufen wird, und Angst vor den Fragen, die sie erneut quälen werden. Doch sie weiß auch, dass sie eigentlich keine Alternative hat. „Ich muss da hin“, sagt sie. „Ich muss an der Stelle sein, wo sie gestorben ist.“

Die Details, wie die 22-jährige Tochter ums Leben gekommen ist, hat sie sich erspart. Auf Raten ihres Anwalts hat sie darauf verzichtet, den Obduktionsbericht zu lesen. „Er hat es getan und gesagt, dass es Sekunden waren“, sagt sie leise. „Das war ein Trost für mich.“

Auf der Suche nach einem Schuldigen

Und auch, dass sie sich mehrere Monate nach dem Unglück mit Andreas ausgesprochen hat, Svenjas Freund, ihrer ersten großen Liebe. Der sie überredet hatte, zur Loveparade zu gehen, obwohl sie doch eigentlich für eine Klausur an der Uni lernen wollte. Und der an ihrer Seite war, als sie starb, und ihr nicht helfen konnte. Monatelang hatte er eine Begegnung mit der Mutter gescheut. „Aber ich musste mit ihm reden. Ich brauchte doch einen Schuldigen.“ Fünf Stunden lang hätten sie sich ausgesprochen, hätten gemeinsam gelacht und geweint. Eine Begegnung, die wichtig war für Claudia Reißaus, um einen Schlussstrich ziehen zu können - und in ihrer hilflosen Trauer und Wut nicht länger ihn dafür verantwortlich zu machen, dass ihre Tochter zu den 21 Opfern zählte.

Trauer zulassen

Der gemeinnützig anerkannte Verein „Sternenkinder Vest e.V.“ ist auf Initiative der Mitglieder der Selbsthilfegruppe verwaister Eltern entstanden, die sich im Oktober 2010 gründete.

Ziel ist es, Müttern, Vätern, Angehörigen und Freunden zu helfen, die den Tod eines Kindes durch Fehl- oder Totgeburt, frühen Kindstod, Unfall, Krankheit oder auch natürliche Todesursachen verkraften müssen. Gleichzeitig möchte der Verein der Öffentlichkeit Wege zum Umgang mit Menschen aufzeigen, die ein Kind verloren haben.

Die zweite Vorsitzende Martina Plum sagt: „Wir erwarten von unseren Mitmenschen, dass sie Trauer zulassen, dass sie respektieren, dass der Tod mit dazugehört. Keiner wird komisch angeguckt, wenn er nicht weiß, was er sagen soll. Aber das Schlimmste ist, wenn man sich von uns abwendet. Dann stirbt das Kind noch einmal.“

Informationen zum Verein bei ihr unter Tel. 0171 / 266 11 66 oder unter www.Sternenkinder-vest.org |

Erst vor kurzem hat sie bei einem Angehörigen-Treffen Menschen kennengelernt, die das Unglück überlebt haben. Darunter auch eine Frau, die inmitten der Tausenden von Menschen in dieser Massenpanik den Halt verloren hatte. „Und als sie am Boden lag und alle über sie hinwegliefen, da hat sie schon mit allem abgeschlossen. Hat noch mal an ihre Familie gedacht und geglaubt, das war's jetzt“, erzählt Claudia Reißaus. „Aber dann sei eine Hand gekommen, nach der sie greifen konnte: die Hand von irgendeinem Mann, der sie hochgezogen und sie damit gerettet hat“, schildert sie. Geweint habe sie mit all den anderen Angehörigen, als sie diese Geschichte gehört habe. „Und ich habe mich gefragt: Warum hat Svenja niemand eine Hand gereicht?“

Und dann gibt sie zu, dass sie sich immer mal wieder im Internet Filme anschaut, die die dramatischen Minuten und Stunden dieses Unglücks zeigen, von den vielen tausend verzweifelten jungen Menschen, die in Panik versuchen, den Massen zu entkommen. „Was ich mache, ist vielleicht nicht richtig“, sagt sie nachdenklich. „Ich quäle mich mit diesen Bildern, tue mir weh damit. Aber irgendwie denke ich, ich könnte sie vielleicht sehen.“

Bäume erinnern an die Kinder

Tatsächlich war es am Donnerstagabend, zwei Tage vor der Katastrophe, dass sie Svenja das letzte Mal gesehen hat: Da war die 22-Jährige, die in Bochum Jura studierte, bei der Mutter zu Besuch und hat gemeinsam mit ihrem Bruder Oliver (heute 20) gekocht. Ob sie noch weiß, was das letzte war, was sie zu ihr gesagt hat? Claudia Reißaus denkt nach. „Das, was ich immer gesagt habe“, gibt sie zu. „Pass auf dich auf.“

Claudia Reißaus (2.v.l.) mit anderen Müttern und Vätern, die ihre Kinder verloren haben - aus ganz unterschiedlichen Gründen. In dem Verein „Sternenkinder Vest e.V.“ geben sie sich gegenseitig Trost und Kraft. Foto: Franz Luthe
Claudia Reißaus (2.v.l.) mit anderen Müttern und Vätern, die ihre Kinder verloren haben - aus ganz unterschiedlichen Gründen. In dem Verein „Sternenkinder Vest e.V.“ geben sie sich gegenseitig Trost und Kraft. Foto: Franz Luthe © WR/Franz Luthe

Es gibt gute und schlechte Tage in ihrem Leben. Heute wird ein schlechter sein. Aber die 49-Jährige weiß, dass sie nicht allein sein wird. Gestern Mittag machte sie sich mit ihrem Sohn und Freundinnen auf den Weg nach Duisburg, um an den Gedenkfeiern teilzunehmen. „Es wird sehr schwer“, weiß sie, „aber an jeder Seite wird jemand sein, der mich stützt.“

Auch eine Frau, die sie über den Verein „Sternenkinder“ kennengelernt hat. Jene Initiative aus Eltern, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Kinder verloren haben: Manche, die nie lebend zur Welt kommen durften, an einer Krankheit starben, oder, wie Svenja, zu den Todesopfern der Loveparade zählen. Für jedes einzelne Kind von ihnen wurde ein Baum auf der Wiese am Kreisel, mitten im Stadtzentrum von Castrop-Rauxel gepflanzt. Der von Svenja ist der Größte und steht in der Mitte. „Sie ist die Älteste von allen“, sagt Claudia Reißaus und lächelt. „Sie passt auf alle auf.“