Duisburg. Lisa Böttcher ist in der Ukraine wie in Duisburg zuhause. Sie blickt zurück auf „das schlimmste und zugleich wertvollste Jahr“ ihres Lebens.
Lisa Böttcher ist Duisburgerin, und der Krieg in der Ukraine hat ihr Leben verändert. Bei vielen Besuchen in der Heimat ihrer Mutter hat sich die Studentin in das Land verliebt, fühlt sich dort genau so zuhause wie in Duisburg. Als Mitarbeiterin unserer Lokalredaktion hat Lisa Böttcher schon im Frühjahr, nach Beginn des russischen Angriffs, über ihre Gefühlslage geschrieben. Zum Jahresende blickt sie auf zehn Monate Krieg in der Ukraine zurück, wo noch immer Familienmitglieder von ihr leben.
24. Dezember 2022: Während die Welt Weihnachten feiert, markiert dieser Tag auch zehn Monate Krieg in der Ukraine. Zehn Monate Zerstörung, Tod und Leid. Aber auch zehn Monate Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt und Hoffnung. 2022 war das schlimmste und zugleich wertvollste Jahr meines Lebens. Und deshalb möchte ich nicht über die Gräueltaten in diesem Krieg schreiben. Ich möchte über das Gute schreiben, das ich aus den zehn Monaten mitnehme.
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Ich erinnere mich an den 24. Februar, wie an keinen anderen Tag. Ich hatte Semesterferien, also schlief ich aus. Als ich aufwachte, war die Invasion bereits in vollem Gange. Ich weiß, dass ich das nicht hätte ändern können, wenn ich früher wach gewesen wäre. Aber bis heute ärgere ich mich darüber, ausgeschlafen zu haben, während in meiner Heimat Menschen durch russische Raketen starben.
Geschichten, die Hoffnung machen
Hoffnung machen mir die vielen Ukrainer, die sich nicht ergaben, sondern kämpften. Jeder auf seine Art und Weise. Ganze Armeen von Großmüttern fanden sich zusammen und kochten literweise Borschtsch, die sättigende ukrainische Rote-Beete-Suppe, die später zum Weltkulturerbe ernannt werden sollte. Ich erinnere mich an Bilder von Menschen, die in ihren Innenhöfen in Fließbandarbeit Molotow-Cocktails herstellten, oder sich mit bloßen Händen gegen russische Panzer stemmten.
Meine Lieblingsgeschichte ist die von Elena aus Kiew. Während sie auf ihrem Balkon saß und rauchte, näherte sich ihr eine russische Drohne. Ohne Zögern griff sie nach einem Glas mit eingelegten Tomaten vor ihr, und holte die Drohne mit einem gekonnten Wurf vom Himmel. Dass die Menschen in der Ukraine alles Mögliche fermentieren und einlegen, rettete nicht nur Elena und ihre Nachbarn vor einem Drohnenangriff, sondern verhinderte auch, dass Menschen in ihren Kellern verhungerten.
Es gibt Unmengen dieser Geschichten. Die russische Armee ist gekommen, um gegen ukrainische Soldaten zu gewinnen. Aber sie verlieren gegen das ganze ukrainische Volk.
„Diese Hilfsbereitschaft rührt mich bis heute zu Tränen“
Doch nicht nur die Menschen in der Ukraine erbringen Höchstleistungen, um ihre Heimat zu verteidigen. Schauen wir nach Berlin: Am 27. Februar versammelten sich eine halbe Millionen Menschen, um friedlich für unsere Freiheit zu demonstrieren. Menschen, die bis dato kaum etwas über die ukrainische Geschichte wussten. Aber das spielt keine Rolle. Denn in Zeiten größter Not standen sie uns bei.
So viel dieser Krieg auch genommen hat und so viel er noch nehmen wird. Er hat mir bewiesen, dass es noch Menschlichkeit in unserer Gesellschaft gibt. Die baltischen Staaten, Polen, die Slowakei – sie alle gaben mehr, als sie hatten. Die Menschen sammelten innerhalb von Wochen Millionen von Euro, um die Ukraine mit modernen Waffen zu unterstützen. Die polnische Bevölkerung organisierte innerhalb von Tagen ein funktionierendes Auffangnetz für Millionen ukrainische Geflüchtete.
Im April reiste ich selbst in die Ukraine. Auf dem Rückweg empfing man uns an der polnischen Grenze mit warmer Suppe und heißem Tee. Wer wir waren, spielte dort keine Rolle. Diese Hilfsbereitschaft rührt mich bis heute zu Tränen.
„2022 war ein furchtbares Jahr“
Es waren die einfachen Menschen, die ihr letztes Hemd gaben, die ukrainische Frauen und Kinder bei sich aufnahmen, die ihre Ersparnisse und Freizeit opferten. Und während die Politik in medialer Aufmerksamkeit badet, bleibt der Dank für die vielen helfenden Hände in der Bevölkerung oft auf der Strecke.
Ich habe niemals gedacht, dass ich so einen Krieg erleben würde. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, so viel Menschlichkeit und Wärme entgegengebracht zu bekommen. Ich bin dankbar für jeden Menschen, der sich mit allen ihm verfügbaren Mitteln gegen die russische Aggression gestellt hat.
Die Ukraine ist ein reiches Land. Reich an fruchtbarer Erde und wunderschöner Natur. Reich an Kultur und Musik. Reich an Geschichte und leider auch reich an Leid. Aber vor allem ist die Ukraine reich an wunderbaren, hart arbeitenden Menschen, die bereit sind, alles zu geben, um ihre Freiheit zu verteidigen. 2022 war ein furchtbares Jahr. Aber ich zweifle nicht daran, dass 2023 besser wird.