Duisburg. Die Speicherung von Telefonkontakten wurde verboten. Es gibt kein neues Gesetz. Folge: Polizisten müssen in einer diffusen Rechtslage operieren, in der jeder Anbieter anders verfährt. Das BKA moniert eine Sicherheitslücke.
Wilhelmine P. ist gutgläubig. „Haben Sie was zu essen?“, hatte der junge Mann die 79-Jährige aus Duisburg-Neudorf gefragt. Sie hat. Zehn Monate, meist mittags, gibt sie dem vermeintlich arbeitslosen Litauer immer mal wieder eine Mahlzeit. Auch Geld. Am 17. Juli 2009 kommt Tomasz L. nicht mittags, sondern abends in ihre Wohnung. Sie ertappt ihn, als er Bares stehlen will. Der junge Mann nimmt den Gürtel eines Morgenrocks und erdrosselt die Frau.
Es ist einer dieser Fälle, an deren Aufklärung Fahnder fast wehmütig zurückdenken. Denn Duisburgs Kripo überführte den Täter, weil sie die Telefonate von Wilhelmine P. zurückverfolgte. Staatsanwalt und Richter hatten der Mordkommission grünes Licht gegeben, die Verbindungsdaten der Rentnerin bei der Telefongesellschaft abzufragen. Ein Treffer. Tomasz L. fiel als häufiger Anrufer auf. In seiner Wohnung stellten die Fahnder das Diebesgut sicher. DNA von ihm fanden sie unter den Fingernägeln der Getöteten. Er gestand. Jetzt büßt er mit lebenslanger Haft.
Könnte die Polizei Täter wie Tomasz L. auch heute überführen? Erfahrene Kriminalbeamte stellen das in Frage. „Die Aufklärungsquote für Tötungsdelikte wird sinken“, sagen sie. Mehr noch: „Fälle von Entführungen und Erpressungen werden wir in Zukunft gar nicht mehr lösen können.“
Telefonanbieter müssen alle Daten löschen
Denn was der Kripo in Duisburg damals half, ist heute nicht mehr erlaubt. Das Bundesverfassungsgericht erklärte am 2. März 2010 die Praxis der Speicherung der Telefondaten für verfassungswidrig. Es ordnete an, Telefonanbieter hätten alle Daten zu löschen.
Seither passiert: nichts. Es gibt kein neues Gesetz. Folge: Polizisten müssen in einer diffusen Rechtslage operieren, in der jeder Anbieter anders verfährt. Die Telekom speichert eingehende Anruf-Versuche 30 Tage, Vodafone sieben, E plus gar nicht. Wird eine Leiche gefunden, müssen die Ermittler mühsam die letzten Telefonkontakte des Opfers rekonstruieren – wenn sie sie denn überhaupt erhalten. Der Chef des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, spricht von einer „Sicherheitslücke“.
5500 Anfragen stellte seine Behörde in den letzten Monaten bei Anbietern und Internet-Providern. 84 Prozent blieben ohne Antwort. Fehlanzeige auch, als Wiesbaden die Telefon- und Internetdaten der rechtsextremen Terror-Organisation NSU erfahren wollten. Wer mit wem wann telefonierte? Bleibt im Dunkeln.
Eine Erfolgsstory
„Wir haben vor dem Urteil viele Morde klären können“, erzählt ein Ermittler aus dem Ruhrgebiet. „Die Daten haben uns zu den Mördern geführt. Wir konnten auf die Telefonnummern der letzten drei Monate zurückgreifen und alle ein- und ausgehenden Telefonate überprüfen. Reichte der Telefonkontakt nicht, war er Anstoß für weitere Ermittlungen. Irgendwann führte das zur entscheidenden Spur.“
Eine Erfolgsstory also. Das Abgreifen der Telefonnummern ist nicht nur im Fall der alten Dame aus Neudorf entscheidend gewesen. Im Sommer 2008 wird in einem Wald bei Hünxe am Niederrhein die fast verweste Leiche eines ukrainischen Autohändlers in einem Plastiksack gefunden. Die ermittelten Kontakte des Mannes lenkten die Spur in die Krefelder Drogenszene. Dort räumte ein 27-jähriger Tat und Motiv ein: Habgier.
Der Streit bringt wenig
Die jetzt stark eingeschränkte Speicherung von Telefon-, Internetkontakten und IP-Adressen der privaten Rechner spaltet Bundesregierung, Datenschützer und EU. Die Frage, was mit den Vorratsdaten passiert, wird zum politischen Großkonflikt. Dabei geht es gar nicht um den Inhalt der Kommunikation. Der war immer tabu.
Der Streit bringe wenig, sagen einige Wissenschaftler. Aus gespeicherten Daten zielsicher die zugehörigen Menschen herauszufiltern, sei schon technisch unmöglich. Professor Karl Ludwig Nöll von der Fachhochschule Wiesbaden gehört zu diesen Skeptikern. Er hält die Speicherung für „weitgehend nutzlos“, denn: „Wer anonymer Teilnehmer im Mobilfunk sein will, kann dies problemlos erreichen“ – per Prepaid-Karte etwa. Kein Anbieter werde solche Nummern aufbewahren.
Die Nummern vielleicht nicht. Aber jedes Mobiltelefon hinterlässt elektronische Spuren, die den Standort verraten, von dem aus oder in den hinein angerufen wird. Erfährt die Polizei von so einer Verbindung, identifiziert sie diese „Funkzelle“.
Mafia-Massaker in Duisburg
Wie wichtig das ist, weiß Heinz Sprenger, der als Leiter der Mordkommission das Mafia-Massaker im Duisburger Restaurant „Da Bruno“ am 15. August 2007 klärte. Er sagt, das habe bei der Überführung des Täters Giovanni Strangio zwar nicht den letzten Durchbruch gebracht, aber erheblich zur Festnahme beigetragen.
Sprengers Kollege Ingo Thiel in Grefrath muss drei Jahre später und sechs Monate nach dem Karlsruher Urteil Mircos Mörder suchen. Der erste Fahndungsansatz, dem seine Leute nachgehen: Welche Mobiltelefone befanden sich am 3. September 2010 in der Funkzelle des Handys des spurlos verschwundenen Zehnjährigen? Doch die Provider winken ab – anders als bei Sprenger. 145 Tage kriminalistische Kleinarbeit folgen. Das sind auch 145 Tage Bangen der Eltern. Dann verrät ganz konventionell eine Faser an einem Autositz Mircos Mörder. Die Zeiten Sherlock Holmes’ sind zurück.