Duisburg. . Duisburg und seine Sorgen nach der Loveparade-Katastrophe: Politik und Verwaltung sind heillos zerstritten, die Bürger übernehmen den Rettungsauftrag. Vier Orte, vier Momentaufnahmen.
Täglich nesteln scheinbar normale Bürger im Abfallbehälter nach Leergut. Mit langem Arm oder Greifzange. Für ein paar Cent. Duisburg ein Jahr nach der Loveparade-Katastrophe: Die Stadt mit mehr als 70 000 Hartz-IV-Beziehern hat noch ganz andere Probleme.
Ortswechsel: Im mondänen Seehaus-Restaurant an der MSV-Arena genießen Ausflügler den Blick über den Berta-See, trifft sich Duisburgs Manager-Elite zu diskreten Firmengesprächen bei Bouillabaisse. Duisburg ein Jahr nach der Loveparade: die Stadt der schönen Flecken und der Firmen mit Weltruf.
Ortswechsel: Bei einer Gesprächsrunde zu Brennpunkt-Stadtteilen fliegen zwischen Oberbürgermeister Adolf Sauerland und seinem Jugenddezernenten (ebenfalls CDU) dermaßen die Fetzen, dass die Wohlfahrtsverbände geschockt einen Mahnbrief aufsetzen. Duisburg ein Jahr nach der Loveparade: Die Stadtspitze ist führungslos, zerstritten.
Ortswechsel: Ruhrort, Konferenzzimmer in der Konzernzentrale des Haniel-Campus. Wirtschaftskapitäne, der Rektor der Uni, Vertreter von Bürgerstiftungen hocken beieinander und suchen nach Zukunftsperspektiven für ihre Stadt, wollen raus aus dem Imageloch. Duisburg ein Jahr nach der Loveparade: Eine Stadt sucht den Neuanfang, sucht den Blick nach vorne.
Hochöfen glühen wie selten
Vier Orte, vier Momentaufnahmen, die Duisburgs Befindlichkeit zwischen Schwebezustand und Zerrissenheit nach dem 24. Juli 2010 widerspiegeln. Die Fast-Halb-Millionen-Stadt, der Stahl-Gigant, die Stadt am Rhein, die sich aufzurappeln sucht, die sich nach Normalität sehnt und doch noch vielfach den Tunnel-Blick hat, den Blick auf den Unglückstunnel.
Wie Duisburger ihre Stadt im Jahr nach der Loveparade erlebt haben
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Keine Frage, das Leben geht weiter: Die Stahlkonzerne investieren Hunderte von Millionen, ihre Hochöfen glühen wie selten; Duisburgs Hafen, der größte Binnenhafen der Welt boomt; Baukräne an Einkaufspassagen in der City zeigen: Es geht aufwärts mit der Innenstadt. Und die Duisburger Marketing-Gesellschaft müht sich redlich um positive Nachrichten, ließ ermitteln, dass weit jenseits der Stadtgrenzen an den Hafen, an den Zoo, ans Ruhrgebiet gedacht wird und nicht mehr sofort an die Loveparade-Katastrophe.
Mehr als 30.000 Unterschriften für Abwahl von OB Sauerland
Und da waren die letzten zehn Minuten des Berliner Pokalfinales der Zebras gegen Schalke im Mai. Mit 0:5 lag der MSV zurück, und die Duisburger Fans sangen und sangen und sangen – Gänsehaut-Gefühl, mit dem sich Duisburg Respekt vor einem Millionenpublikum verdiente.
„Wir müssen nun versuchen, langsam wieder etwas aufzubauen, um das Bild, das die Menschen von dieser Stadt haben, zu verbessern“, fordert Haniel Vorstands-Chef Jürgen Kluge, einer der Motoren des hochkarätigen Unterstützerkreises der Wirtschaft.
Für die Initiative „Neuanfang für Duisburg“ gibt es allerdings nur einen Weg in die Zukunft: Er führt über die Abwahl von OB Sauerland. Mehr als 30 000 Unterschriften haben sie in einem Monat gesammelt, drei Monate bleiben für die andere Hälfte, um das Abwahlverfahren in Gang zu setzen. „Da soll kein Fürst aus der Stadt gejagt werden“, betont einer der Initiatoren, Werner Hüsken. Vielmehr als eine Art Aufbruch, als Signal nach außen versteht die Initiative ihr Ziel: Duisburg zieht sich selbst aus dem Tief.
Öffentliches Leben wirkt unnatürlich
Dem ersehnten Aufbruch steht Lähmung gegenüber: Auch wenn Sauerland die Rückkehr zur Normalität ausmacht und beteuert, dass das Stadt- und Verwaltungsleben wieder läuft, sieht der Alltag anders aus. Duisburg zermürbt sich in seiner öffentlichen Auseinandersetzung, Sauerland-Gegner und Befürworter stehen sich unversöhnlich gegenüber. Das gipfelte in solcherlei Possen: Gewerkschaften wollten Sauerland als Gastgeber seines städtischen Arbeitnehmerempfangs am Vorabend des 1. Mai ausladen und boykottierten schließlich die Traditionsveranstaltung.
Das öffentliche Leben wirkt unnatürlich. Kaum ein Gespräch bei Kulturevents, Firmentreffs oder Politrunden, das nicht den omnipräsenten Nachklang der Katastrophe zum Thema hat: den Oberbürgermeister. Kommt er, kommt er nicht, sagt er was, sagt er nichts? „Es werden keine Entscheidungen mehr getroffen“, hört man Klagen aus der Wirtschaft, von Verbänden, auch aus dem Rathaus. „Ich unterschreibe nichts mehr“, soll sich ein Bezirksbeamter geweigert haben, eine Veranstaltung zu genehmigen. Wen wundert’s: Elf Stadtbeamte zählen zu den Beschuldigten der Loveparade-Katastrophe.
Beigeordnete sind heillos zerstritten
Die Unsicherheit in den Amtsstuben steigert sich zum Stillstand und führt zu Zoff in der Rathausspitze. Heillos zerstritten ist die Beigeordneten-Riege. Nicht zitierfähige Worte fallen in ihren Runden. Alle gegeneinander und (fast) alle zusammen gegen den Oberbürgermeister. Und der hat seine Führungsgewalt verloren. Wer kann, duckt sich weg, oder lässt den anderen auflaufen. Banalitäten werden zur Peinlichkeit: Weil 2500 Euro für einen Jugendaustausch mit der Türkei fehlten, mussten die Gäste kurzfristig ausgeladen werden. Dass Duisburg mit 1,7 Milliarden Euro horrend verschuldet ist, steigert Agonie und Streitpotenzial.
Auch im Stadtparlament. Seit dem Frühjahr hat ein rot-rot-grünes Bündnis die Macht und Mehrheit im Rat. Ohnehin nicht leicht für einen CDU-Oberbürgermeister. Unmöglich für Sauerland, während vor allem SPD und CDU unlösbar überquer liegen.
Aber auch das ist wahr: Es gibt Parallelwelten. Während Stadt und Politik starren und streiten, wo doch Zusammenrücken und Tatkraft Not täte, hat die leise Mehrheit in respektvollem Gedenken mit der Katastrophe wohl abgeschlossen, hat genug von Negativ-Schlagzeilen über ihre Stadt. „Krisen sind immer auch eine Chance. Wir wollen diese Chance entdecken“, blickt Hartmut Müller-Peddinghaus von der honorigen Bürgerstiftung daher kämpferisch in die Zukunft. „Wir sind Duisburg. Wir lieben unsere Stadt.“
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