Duisburg. Dominiks Kindheit war geprägt von Gewalt und Alkohol in der Familie. Inzwischen geht es steil aufwärts. Warum der Streetworker ein Vorbild ist.
Ob er an der Uni einen Doktorvater finden wird? Er, der bunte Hund? Mit Tunnelohrringen und flächigen Tattoos, Nasenpiercing und dicken Muckis?
Dominik Latussek muss noch seine Masterarbeit schreiben, bevor es an die Promotion geht. Aber der Duisburger hat schon ganz andere Hürden genommen und will damit Vorbild sein. Für Menschen, die unter schwierigsten Bedingungen aufwachsen und die aus eigener Kraft die Kurve in der Halfpipe des Lebens kriegen, weil sie wissen: Nach jedem Tal geht es wieder aufwärts.
Streetworker Dominik will Vorbild für die Duisburger Kids sein
Seine Lebensgeschichte erzählt er am Skatepark an der Ottostraße in Hochheide, im Schatten der Weißen Riesen, wo er als Streetworker arbeitet. Jugendliche, die in Gruppen im Halbdunkel herumstehen und die manchem Anwohner dort Angst machen, sind seine Zielgruppe. Sie anquatschen, Hallo sagen, Bindungsarbeit betreiben. Und sich einen Namen machen, indem man einem von ihnen hilft. Freiwilligkeit sei in seinem Job das Wichtigste, „alles, was mit Zwang passiert, kannst du vergessen“.
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Objektiv und subjektiv seien die Probleme damals wie heute gleich, sagt Latussek. Sein erster Rausch mit 13, tägliches Abhängen mit Freunden in Obermarxloh, BMX-Fahren, Kicken, seine Jugend unterscheidet sich nicht groß von der Situation seiner Klienten: Hauptsache, nicht viel Zeit zu Hause verbringen, lieber auf der Straße sein. Nicht mal Weihnachten gelang so was wie ein Familiengefühl, „da stand die Polizei vor der Tür“, erinnert er sich.
In seiner Kindheit ist Gewalt an der Tagesordnung
Der Vater ist inzwischen tot, aber dessen Nachkriegskindheit ist eng damit verknüpft, wie der kleine Dominik aufwuchs. Es ist eine Spätaussiedlergeschichte: Der Vater kam als Neunjähriger aus Polen nach Deutschland, landete mit der Familie im Flüchtlingslager, biss sich ohne Deutschkenntnisse in der Schule durch, „da war nicht viel mit Lachen“, weiß Latussek heute.
Trotz Chancen für das Gymnasium landete der Vater mit 14 bei Thyssen, wo es Alkohol sogar am Automaten gab, so berichtete er es. Auch die Mutter wuchs in großer Armut auf, eine ihrer Schwestern sei noch als Baby verhungert.
Seine Eltern kommen mit 18 zusammen, das Gefühl der großen Liebe verschwindet allerdings schnell hinter den Folgen des Alkohols. Die Fassade wird gewahrt, aber hinter den Kulissen war Gewalt an der Tagesordnung, erzählt der Streetworker. „Ich hab mich immer verantwortlich gefühlt, habe mich schon als Zwölfjähriger vor meine Mutter gestellt.“ Der Vater brach seine Nase an der Türzarge.
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Der Masterstudiengang läuft parallel zum Job
Das Studium für Soziale Arbeit und aktuell der Master im Studienfach Coaching an der IU Internationalen Hochschule kann er als Fernstudium ohne Präsenz in seinen Alltag integrieren. Es bringt ihn nicht nur beruflich voran, es erhellt auch seinen Blick zurück.
Es ist eben nicht normal, als 14-Jähriger in die Wohnung des Großvaters zu ziehen und ihn bis zum Tod zu pflegen, damit er nicht ins Altenheim muss. Aber zu Hause wäre es noch schlimmer gewesen. „Es gab schon Kasalla, wenn ich abends Hunger hatte und noch mal an den Kühlschrank wollte“, erinnert sich der 37-Jährige. Schuldgefühle plagten ihn, wenn seine Mutter wieder ein blaues Auge hatte.
Dennoch blieb er auch nach dem Tod des Opas in dessen Wohnung, kochte mangels Gasanschluss auf einem Campingkocher seine Nudeln, landete nach einem gescheiterten Berufsschul-Versuch bei der Werkkiste in Marxloh. Hier wurde die Grundlage für seinen beruflichen Weg gelegt, der ihn zunächst in die Altenpflege führte. Mit dem ersten Gehalt zog er zum 18. Geburtstag in eine eigene Wohnung.
Er schafft die Lehre, wird schnell Stationsleiter in einer Geronto-Psychiatrie. Überforderung auf der einen Seite, keine Aufarbeitung der familiären Überbelastung auf der anderen Seite habe er mit Alkohol betäubt. Ein Missbrauch, wie er heute weiß.
Als Sozialarbeiter in Marxloh stößt er auf alte Kumpels
Die entscheidende Motivation kommt von seiner Lebensgefährtin: „Studier doch!“, sagte sie. Latussek wechselt den Job, geht in die ambulante Intensivpflege und schafft als beruflich Qualifizierter mit 25 Jahren den Sprung an die Uni. Nachts arbeiten, morgens ins Seminar. Die Elternzeit nutzt er für die Bachelorarbeit, das Baby immer in der Trage zwischen sich und dem Computer.
Der erste Job führt ihn in die Jugendgerichtshilfe nach Marxloh und Hamborn, „da wo ich selbst herumgelungert hab, die sozialen Milieus kannte ich“. Als er in die Familienhilfe wechselt, begegnen ihm Kumpel von früher, inzwischen aber mit sieben Kindern im sozialen Wohnungsbau.
Dass er sich gut verkaufen, gut artikulieren kann, hat ihm bei seinem Aufstieg geholfen. Aber auch in Anzug und Krawatte spürt er den Unterschied zwischen sich und jenen, die aus besseren Kreisen kommen.
Dass sein Habitus ein anderer ist, dass er mit seiner Art zu seinen Klienten eine Nähe aufbauen kann und dass das ein Gewinn ist, musste er erst verstehen: „Ich brauche keine Verkleidung!“ Soziale Herkunft ist nichts weiter als ein Zufall, so sieht er es heute. Und mit ein bisschen Glück und viel Willenskraft kann man es schaffen, sich freizustrampeln. So will er ein gutes Vorbild sein. Dafür lässt er sich parallel auch als Coach zertifizieren.
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Viele Jugendliche aus Duisburg bleiben mit ihren Problemen unter dem Radar
Als Streetworker holt er die jungen Menschen in Homberg und Ruhrort bei ihren Sorgen ab. Viele der Straßenkids haben zwar ein neues Handy, aber nichts zu essen, keine passende Jacke, „und mit ihren Problemen bleiben sie unter dem Radar“. Häufig beobachtet er Parallelen zu seiner eigenen Biografie. Der Unterschied sei, dass es früher mehr Cliquen gab, die auf der Straße herumliefen, heute hänge man eher bei dem ab, der eine eigene Bude hat.
Die Kids heute haben ein paar Vorteile, „in meinem sozialen Milieu gab es keine institutionalisierte Hilfe, niemanden, den ich hätte fragen können“, bedauert er. Heute haben die meisten Schulen Sozialarbeiter, es gibt Anlaufstellen in der ganzen Stadt und Online-Hilfeangebote. Seine Hilfe ist für jene gedacht, die über etablierte Wege nicht zu erreichen sind.
Dabei begleiten ihn bis heute Glaubenssätze aus seiner Kindheit. Sprüche, die ihm sein Vater um die Ohren schlug: „Du bist zu nichts zu gebrauchen“. „Du bist dumm“. Dass das nicht stimmt, hat der große Dominik schon mehrfach bewiesen. Ein Doktortitel wäre die Kirsche auf der Sahne.
Als Vater will er ohnehin alles anders machen, besser, bewusster. „Ich bin nicht mehr das gebrochene Wesen, sondern ein gestandener Mann, der für seine Tochter da ist.“ Nur ab und an genießt er Spaß mit seinen Freunden, kann dann noch mal selbst ein bisschen Kind sein.
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>>VEREIN FÜR KINDERHILFE & JUGENDARBEIT
- Der Verein für Kinderhilfe & Jugendarbeit Duisburg e.V. betreibt das Blaue Haus in Hochfeld, zwei Schulkinderhäuser, Kinder- und Jugendtreffs, drei Streetwork-Projekte und das Spielmobil. Er ist jugendamtsnah organisiert, Vorsitzender ist Jugendamtsleiter Hinrich Köpcke.
- Die Streetworker sind für Kinder und Jugendliche ansprechbar, sie sind immer als Duo unterwegs, einer weiblich, einer männlich.
- Mitunter wenden sich auch Eltern an den Verein, wollen wissen, wie sie ihr Kind motivieren können, das ganze Tage im Bett herumlungert. „Wenn das Kind auch einverstanden ist, kann ich als Mediator agieren“, sagt Dominik Latussek. Aber nur im Auftrag der Eltern mache er nichts, „es braucht das Einverständnis der Teenager“.
- Weitere Infos: www.kinderhilfe-duisburg.de/