Duisburg-Ruhrort. Duisburger Geschichte bei einem Spaziergang erleben – mit beeindruckenden Ansichten aus der Vergangenheit: Eine App macht das in Ruhrort möglich.
Wie war das eigentlich, während des Zweiten Weltkrieges als Krankenschwester in einem Lazarett zu arbeiten? Um das beurteilen zu können, bin ich das ein oder andere Jahr zu jung. Der Regionalverband Ruhr hat für Leute wie mich allerdings eine Lösung: die App Perspektivwechsel. Die Idee dahinter klingt ungewöhnlich: Fiktive Zeitzeugen – wie die Krankenschwester Wilma Swonke – leiten mich anhand mehrerer Stationen durch den Stadtteil Duisburg-Ruhrort und berichten von ihrem harten Berufsalltag im Lazarett, den Zerstörungen durch das Hochwasser 1924, aber auch von ihren liebsten Kneipen und der schönsten Einkaufsmeile in Ruhrort.
Perspektivwechsel: Neue Route der App führt durch Duisburg-Ruhrort
Los geht es am Museum der Deutschen Binnenschifffahrt. Ich setze mich auf eine der massiven Steinstufen vor dem Eingang des Museums und schaue auf die gegenüberliegende Industriehalle von Thyssen-Krupp. Mit seinen dunklen Ziegelwänden und den rußverschmierten Fensterscheiben ist die Halle authentisch für die Zeit, in der die Geschichte von „Perspektivwechsel“ spielt. Die blau-gelbe Infotafel ist nicht zu übersehen. Es gibt einen Text, der das Programm erklärt. Außerdem einen QR-Code, über den ich direkt auf die Internetseite vom Duisburger Erlebnisraum, so heißen die Routen, gelange.
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Dort findet man alle Informationen – vom Erklärtext, über die Route bis zu den Erzählungen der Zeitzeugen. Die Infotafeln nutze ich daher eher als Orientierung, wann ich an der nächsten Station angekommen bin.
Auf meinem Weg durch Ruhrort „begleitet“ mich (unter anderem) Wilma Swonke. 1892 in Ruhrort geboren, die Eltern Arbeiter – mit Wurzeln in Polen. Wilma erzählt zu Beginn von ihren ersten Besuchen in der Badeanstalt, dem heutigen Binnenschifffahrtsmuseum. Sie spricht mit hartem Ruhrgebietsdialekt, ihre Stimme ist tief und ihr Lachen laut. Den Dialekt finde ich etwas überzogen, auch wenn ich selbst im Ruhrgebiet geboren bin – aber eben 100 Jahre später.
Strecke durch Ruhrort ist für Fußgänger geeignet
Das nächste Ziel ist der ehemalige Eisenbahnhafen. Was auffällt: Die einzelnen Stationen liegen nicht weit auseinander, länger als zehn Minuten braucht man zu Fuß nicht. Und die Strecke lohnt sich: Die Macher haben extra schöne Spaziergänger-Routen ausgesucht. Der Weg führt auf die Bassinbrücke – mit Blick auf die Mühlenweide und das Rheinufer.
Während ich mir die Erzählungen der Protagonisten anhöre, schaue ich mir die Archivbilder an, die in der App vom Eisenbahnhafen hinterlegt sind. Das hilft, sich die beschriebene Situation – zumindest ungefähr – vorzustellen. Denn während ich auf den Kopfhörern höre, wie Wilmas Freundin Gertrud beschreibt, wie ihr Mann beim Hochwasser 1924 ums Leben gekommen war, fährt ein Radfahrer den Uferweg entlang. Aus den Boxen auf seinem Gepäckträger dröhnen laute Techno-Bässe – vermutlich nicht gerade passend zum Hochwasser von 1924.
Allgemein fällt es mir schwer, mich in die Situation von Wilma, die gerade erzählt, wie 1916 ihr Verlobter starb, hineinzuversetzen. Denn um mich herum sehe ich E-Autos vorbeifahren, ein Spaziergänger telefoniert lautstark über seine kabellosen Kopfhörer und eine Gruppe Arbeitskolleginnen läutet gerade mit einer Runde Eis aus dem Supermarkt die Mittagspause ein. Harte Kontraste zu Wilmas Erzählungen.
Touristentipps sind in der App hinterlegt
Die Archivbilder mit dem heutigen Bauzustand zu vergleichen, gefällt mir besser. Eine tolle Funktion der App: Sie zeigt verschiedene Routen an – so zum Beispiel auf dem Weg zur vierten Station. Entweder durch die Dammstraße „entlang mehrerer prachtvoller Wohnhäuser“ oder komplett am Wasser. Ich entscheide mich für die zweite Variante.
Durch die Horst-Schimanski-Gasse (an Touristen-Hotspots wurde ebenfalls gedacht) geht es zur Schifferbörse – der aus meiner Sicht schönste Stopp auf der Route. Nicht nur, weil es hier genug Sitzmöglichkeiten gibt, um sich die Geschichten der Protagonisten in aller Ruhe anzuhören, sondern auch, weil es hier den direkten Blick auf historische Museumsschiffe und den Rhein gibt.
Besonders eindrücklich wird es dann aber an der fünften Station, dem Haniel-Haus. Eine Gedenktafel erinnert an die historische Bedeutung des Hauses, in dem während des ersten und zweiten Weltkrieges Verwundete und Kranke versorgt wurden. Davon erzählt auch Wilma. Sie berichtet von 24-Stunden-Schichten und verletzten Arbeitern aus den Hochöfen, die mit Brandverletzungen und Rauchvergiftungen eingeliefert wurden. Selbst ihren eigenen Verlobten habe sie hier nach seiner Rückkehr von der Front gepflegt. Das Haus sieht auf den Archivbildern (wieder) fast genauso aus, wie vor 100 Jahren. Die Fassade strahlt weiß, auf dem Tor zum Hinterhof prangt ein Löwe.
Menge an Informationen überzeugt
Über die Fabrikstraße, während des Zweiten Weltkriegs als Kneipenmeile bekannt, und den Neumarkt geht es zum letzten Halt – das ehemalige Schifferkinderheim Nikolausburg, das heute von der Jugendhilfe der Caritas genutzt wird.
Wilma hat hier ehrenamtlich nach den Kindern der Binnenschiffer gesehen, so erzählt die Ruhrpott-Stimme. Während sie von den bedrohlichen, massiven Backsteinmauern und den strengen Nonnen erzählt, die die Kinder dort betreut haben, schaue ich lachenden Kindern beim Schaukeln zu. Das Gebäude ist geblieben, die Umstände haben sich geändert – wie so oft auf der Tour.
Fazit – die App lohnt sich. Ob die Geschichten der fiktiven Zeitzeugen einen interessieren, ist Geschmackssache. Da sie für die Nutzung der „Erlebnisroute“ aber kein Muss sind, kann jeder selbst entscheiden, ob er sie anhört oder nicht. Was positiv auffällt ist die Menge an Informationen, die in der Anwendung stecken – sowohl was die Hintergrundinformationen und Archivbilder als auch die von der Geschichte losgelösten Freizeittipps angeht.
>> Tipps zur Nutzung der App
Wie funktioniert die App?
Man lädt sich die App zunächst im App Store (Apple) oder Google Play Store (Android) herunter. Die App ist kostenlos und werbefrei. Vier sogenannte Erlebnisrouten durchs Ruhrgebiet gibt es.
Das sind die Stationen der Duisburger Route:
- Binnenschifffahrtsmuseum
- Ehemaliger Eisenbahnhafen
- Friedrich-Ebert-Brücke
- Schifferbörse
- Packhaus Haniel
- Fabrikstraße
- Neumarkt
- Schifferkinderheim Nikolausburg
An jeder der acht Stationen gibt es eine Infotafel, auf der der geschichtliche Hintergrund beschrieben wird. Außerdem kann man hier den QR-Code scannen, um direkt zur jeweiligen Station zu gelangen. Auch welche Figuren zu Wort kommen, wird angezeigt.
Woher stammen die Informationen?
Laut Anbieter „Ruhr-Tourismus“ sind sowohl die Figuren als auch ihre Geschichten erfunden. Sie sollen aber stellvertretend für die Lebensumstände der Menschen stehen, die 1957 in Ruhrort gelebt oder gearbeitet haben. Grundlage seien neben Büchern Gespräche mit Zeitzeugen, deren Angehörigen und auch Museumsmitarbeitern gewesen, die ihre Geschichten, Erinnerungen und Lebensumstände geschildert haben.
Worauf muss ich achten?
Der Handyakku sollte voll geladen sein. Für die Tour empfiehlt es sich, den Stromsparmodus anzuschalten und zur Sicherheit eine Powerbank dabei zu haben. In unserem Test hat die gesamte Tour 80 Prozent der Akkuladung vom Handy verbraucht.
Wie lang ist die Tour?
Rund 3,5 Kilometer ist die Route durch Ruhrort lang. Die Strecke ist sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrer geeignet. Es gibt aber auch alternative Wege für Rollstuhlfahrer, die in der App hinterlegt sind. Wer die Route zu Fuß zurücklegt und sich alle Audiodateien anhört, sollte – je nach Gehtempo – drei bis vier Stunden für die Tour einplanen. Wenn man die zusätzlichen Touristen-Tipps nutzt, dauert es entsprechend länger.