Duisburg. Ein Duisburger klebt sich für die „Letzte Generation“ in Berlin auf die Straßen. Warum der 62-Jährige sich dieses „Gift für die Psyche“ antut.
20. Oktober 2022: Peter Schreiner* aus Duisburg hat sich vorbereitet. Er trägt eine Hose mit Gummizug und einen kleinen Rucksack. Falls er wieder von der Polizei abgeführt wird, hat er sich ein Buch eingepackt und eine Schlafmaske. Gürtel und elektronische Medien sind im Gefängnis verboten und in der Zelle brennt Neonröhrenlicht. Das weiß er schon. Das Ziel der sogenannten „Letzten Generation“ an diesem Tag: Das Frankfurter Tor – eine große Kreuzung in Berlin – sperren und sich auf die Straße kleben.
Wir treffen den 62-Jährigen in seinem Zuhause, einem großen Einfamilienhaus in einer kleinen Straße in Duisburg-Buchholz. Er wirkt wie der nette Nachbar von nebenan. Dass er dem Bündnis von Klimaschutz-Aktivisten angehört, das immer wieder mit grenzüberschreitenden Aktionen Schlagzeilen macht, weiß hier kaum jemand. Dass er schon zweimal hinter Gittern war und einige Platzverweise bekommen hat, auch nicht. Deshalb will er in der Presse anonym bleiben.
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Er hätte selbst nicht geglaubt, dass er für das Klima mal den Knast in Kauf nehmen würde. Hört man ihm zu, scheint er ein bodenständiger, gebildeter Mensch zu sein. Er drückt sich eloquent aus und weiß über die wissenschaftlichen Klimastudien genau Bescheid. Hinter ihm liegt eine Karriere als Software-Entwickler, in der er gutes Geld verdient hat – und vor ihm noch ein Jahr bis zur Rente. Er hat eine Ehefrau und zwei erwachsene Kinder.
Bevor er sich der „Letzten Generation“ anschloss, hat er an vielen Klima-Demonstrationen teilgenommen und Petitionen unterschrieben. „Aber die Politik ignoriert das einfach“, sagt er energisch. Dann senkt er den Blick. Seine Stimme wird leiser. „Mir fällt das nicht leicht. Ich bin selbst skeptisch, ob unsere Aktionen wirken. Wer eine andere Lösung hat, die Politik zum Handeln zu bewegen, ist herzlich willkommen.“
Der Duisburger empfindet Mitleid und Reue, wenn er Straßen blockiert
Dass die „Letzte Generation“ unbeteiligte Menschen trifft, tut ihm weh. Wenn er gemeinsam mit vier anderen Aktivisten die Straßen blockiert, weiß er: Hier stehen Mütter im Stau, die ihre Kinder zur Schule bringen wollen und Arbeitnehmer, die pünktlich zum Termin müssen. „Sie sind zur falschen Zeit am falschen Ort und das tut mir leid. Ich kann ihre Wut verstehen.“
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Deshalb atmet er am 20. Oktober noch ein paar Mal tief durch, bevor er aus dem Berliner U-Bahn-Schacht steigt und sich seine orange Warnweste anzieht. Auf der Kreuzung angekommen, stellt er sich vor die Autos und hält ein Schild hoch mit der Aufschrift: „Und was ist, wenn die Regierung es nicht im Griff hat?“ Dass er wenige Minuten später den Sekundenkleber aus der Hosentasche zücken wird, seine Hände in Sekundenschnelle einschmieren und sich dann auf den glatten Asphalt kleben wird, kostet ihn Überwindung.
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Immer wieder geht er die Gründe in seinem Kopf durch. Man verspüre eine Mischung aus Panik und Angst, sagt Schreiner. So eine Aktion sei Gift für die Psyche – und viele sehen darin eine Straftat statt zivilem Ungehorsam. „Das ist keine Spaßveranstaltung. Manche Autofahrer steigen aus, treten oder schlagen uns. Wir können uns nicht wehren, wenn wir auf der Straße kleben – und wir wollen es auch nicht.“ Die „Letzte Generation“ habe sich „friedlichen“ Protest auf die Fahne geschrieben.
Die Panik falle allmählich ab, sobald ihm die Polizisten Speiseöl über die Finger kippen, um ihn vom Asphalt zu lösen. „Es klingt komisch: Aber wenn ich in der weißgekachelten Zelle sitze, kann ich das erste Mal durchatmen.“ Die gelben Strafbefehle stapeln sich schon in seinem Haus. Doch statt sein Geld in Aktien zu investieren, will er damit lieber die drohenden Tagessätze bezahlen, die jeweils in Höhe seines monatlichen Netto-Gehaltes liegen. „Ob es sich tatsächlich um Straftaten handelt, müssen letztendlich die Gerichte entscheiden. Ich habe erst einmal Widerspruch eingereicht.“
Letzte Generation: „Wir hören nicht auf, bis die Politik endlich handelt“
In seinem baldigen Ruhestand könnte der 62-Jährige die Füße hochlegen, den Rasen mähen, sich Spiele des MSV Duisburg anschauen. „Aber diese Antworten will ich meinen Enkelkindern nicht geben, wenn sie mich fragen, was ich in der Zeit gemacht habe, in der die schlimmsten Entwicklungen noch hätten verhindert werden können.“ Er könne nicht tatenlos zusehen, „wie sich die Politik vor dem Klimaschutz verschließt“. Die Wissenschaft warne seit Jahren vor Klimakatastrophen.
„Manche sagen, es sei längst zu spät. Manche prognostizieren noch ein bisschen Zeit. Fakt ist: Hitze, Dürren und Flutkatastrophen sind auch schon in Deutschland angekommen.“ Um CO2 einzusparen, fordert die „Letzte Generation“ die Fortführung des Neun-Euro-Tickets und ein Tempolimit auf Autobahnen.
Und wie soll es weitergehen? „Wir hören nicht auf, bis die Politik den Klimaschutz endlich ernst nimmt. Dafür schrecken wir nicht davor zurück, Grenzen zu überschreiten. Das Thema muss in der Gesellschaft endlich kritisch diskutiert werden.“
(*Name von der Redaktion geändert)
BEISPIELE VON STRAFBEFEHLEN GEGEN KLIMAAKTIVISTEN: WAS IHNEN DROHT
- Das Amtsgericht München hat Strafbefehle gegen drei Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ erlassen, die sich an einem Rubens-Gemälde festgeklebt hatten in der Alten Pinakothek. Den drei Männern drohen „erhebliche Geldstrafen“, die allerdings nicht beziffert wurden, heißt es in der Süddeutschen Zeitung.
- Klimaaktivisten, die den Straßenverkehr blockieren und sich auf den Asphalt kleben, drohen Strafbefehle wegen Nötigung, zum Teil auch wegen Widerstand. Auch hiefür sollen hohe Geldstrafen veranschlagt werden.
- Ein Richter des Berliner Amtsgerichtes Tiergarten hat den Strafbefehl gegen eine Klima-Aktivistin verweigert. Sie hatte sich auf einer Straße festgeklebt. Der Richter begründete seine Entscheidung damit, dass es sich bei der Klimakrise um eine „objektiv dringliche Lage“ handele, die „wissenschaftlich nicht zu bestreiten“ sei, heißt es in mehreren Medienberichten.
- Zuvor hatte das Berliner Amtsgericht Tiergarten einen anderen Klima-Aktivisten zu 60 Stunden Freizeitarbeit verurteilt. Auch der 20-Jährige hatte sich zuvor auf eine Straße geklebt und den Verkehr blockiert. Aufgrund seines Alters wurde er nach dem Jugendstrafrecht wegen Nötigung verurteilt.