Essen. Moral und Moria: Wen sollen wir ins Land lassen und warum? Die Flüchtlings-Debatte spaltet Europa und stellt die Wertegemeinschaft in Frage
Der zuletzt heftige aufgeflammte Streit um die Frage, wie viele Menschen aus dem Auffanglager Moria nach Deutschland kommen sollen und die Widerstände gegen den Vorschlag der EU-Kommission zur Neuordnung der europäischen Asyl-Regelungen ist symptomatisch für den Konflikt, der die Gesellschaft in Fragen der Zuwanderung zutiefst spaltet: Holt sie alle!, ruft die eine Seite und verweist auf das menschliche Leid. Die andere Seite bremst, warnt vor deutschen Alleingängen, fragt nach den Folgen und einer europäischen Lösung – und scheint damit menschenverachtend zu argumentieren. Aber was ist moralisch das Richtige? Die Antwort könnte auf der Hand liegen: Zu helfen natürlich!
Komplizierte Folgefragen: Warum ausgerechnet diese Menschen?
Allerdings verheddert man sich schnell in Folgefragen: Warum sollen wir ausgerechnet diesen Menschen helfen? Was ist mit den übrigen 80 Millionen, die laut UNO weltweit gerade auf der Flucht vor kriegerischen Konflikten und Katastrophen sind? Und was ist mit den 1,3 Milliarden Menschen, die weltweit mit einem Einkommen von weniger als 1,90 Dollar am Tag auskommen und mindestens zeitweise hungern müssen (die Hälfte sind Kinder). Warum retten wir nicht afrikanische Frauen vor der Beschneidung oder das Volk der Rohingya vor der Verfolgung durch das Militär von Myanmar. Und wenn wir all diese nicht aufnehmen können, weil das schlicht nicht geht, warum sollen uns beispielsweise die 10.000 in Moria wichtiger sein als all die anderen?
Von Gutmenschen und Nazis
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Unter Berufung auf den Soziologen Max Weber wird an dieser Stelle der Moral-Debatte häufig zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern unterschieden. Der Gesinnungsethiker stellt einen Wert über alle anderen und lehnt Kompromisse ab: In diesem Falle wäre es der Impuls der Mitmenschlichkeit („Macht alle Grenzen auf!“). Der Verantwortungsethiker weiß, dass jede Entscheidung auch negative Folgen hat und wägt deren Wirkung auf andere Werte ab: Wieviel Zuwanderung verträgt eine offene Gesellschaft ohne ihren Kern zu beschädigen? Welche Risiken hole ich mir mit den Einwanderern ins Land? Im herrschenden vergifteten Klima werden die einen als Gutmenschen attackiert, die vor allem wollen, dass sich Politik für sie persönlich gut anfühlt. Während diejenigen, die dem Impuls der Menschlichkeit nicht vorbehaltlos folgen wollen, als Zyniker beschimpft oder ins rechte Eck gedrängt werden.
Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern greift nicht
Andreas Niederberger, Professor für Praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen, hält solche Kategorien nicht für hilfreich, um sich als Gesellschaft sinnvoll mit dem Thema zu befassen. Niederberger koordiniert ein großes Forschungsprojekt (NoVaMigra) mit neun beteiligten Universitäten, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich Zuwanderung derzeit auf die Werte der Europäischen Union auswirkt und wie die EU auf der Basis ihrer Werte künftig mit dem Thema Zuwanderung umgehen sollte.
Drei Debattenstränge, drei Antworten
Niederberger sagt: Bereits die gängige Unterscheidung von Gesinnungsethikern und Verantwortungsethikern sei nicht zielführend: Man müsse vielmehr bei der Debatte um Moria drei Diskussionsstränge unterscheiden: Es gebe zum einen die „dramatische, humanitäre Notlage“, die letztlich Ausdruck der europäischen Grenzpolitik sei, die mit Lagern wie demjenigen von Moria auch einen abschreckenden Effekt erzielen wolle. Es gebe zudem die Europäischen Verträge und die Flüchtlingskonvention als geltende rechtliche Basis für den Umgang mit Schutzsuchenden – und darüber hinaus gebe es die bisher weithin ungeklärte Zuwanderungspolitik der EU. Um eine gute Antwort auf die Krise von Moria oder die Flüchtlingsdebatte zu finden, müsse man am besten die drei Felder nacheinander abarbeiten.
Punkt 1: Eine unmittelbare humanitäre Notlage verlange eine rasche Hilfe. Da die Griechen beim Schutz der Außengrenzen praktisch im Auftrag der EU handeln, müsse auch die gesamte EU dafür gerade stehen: zum Beispiel indem die Menschen von Moria auf die EU-Staaten verteilt werden. Oder die EU Griechenland noch stärker als bisher unterstützt bei der Versorgung der Zugewanderten.
Punkt 2: Niederberger moniert, dass sich die Griechen derzeit nicht an geltendes Recht halten. Im EU-Vertrag ist in Artikel 2 definiert: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.“ In Moria werden diese Werte missachtet. Zudem sei, so Niederberger, ein Grenzübertritt im Prinzip nicht illegal – für Flüchtlinge und Asylsuchende. Nach einer Bitte um Aufnahme ist der betreffende Staat verpflichtet, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums den Status des Schutzsuchenden festzustellen: Ist er Zuwanderer oder Flüchtling? Danach richtet sich dann wiederum der weitere Aufenthaltsstatus. Das sei mit den Menschen auf Lesbos nicht geschehen, so Niederberger. Die EU und als ausführendes Land Griechenland verstoßen damit sowohl gegen Völkerrecht als auch gegen die EU-Verträge.
Punkt 3: Die Zustände in Moria oder anderen erbärmlichen Lagern an den Außengrenzen der EU seien letztlich das Ergebnis einer Verweigerungshaltung. Die EU habe als politische Einheit habe bisher keine schlüssigen Regeln gefunden, wie sie mit Zuwanderung umgehen will. Man hat sich um das Problem herumgedrückt – und hat mit schlechten provisorischen Lösungen den internen Konflikt verkleistert.
Der Zuwanderungsdruck bleibt, Europa braucht eine Antwort
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Der Druck werde aber weiter wachsen – weil es so vielen Menschen auf der Welt sehr viel schlechter geht als uns. „Die Leute werden kommen“, so Niederberger. Und dies müsse künftig geordnet geschehen. Der Vorschlag der EU-Kommission zielt letztlich in diese Richtung: Schnelle Abarbeitung der Statusprüfungen an den Außengrenzen, schnellere Abschiebungen, solidarische Unterstützung für die Länder der Außengrenzen. Niederberger fügt weitere Punkte hinzu, die das Thema entschärfen könnten: Es könnte für Europa günstiger sein, sich noch stärker als bisher für verbesserte Lebensverhältnisse in Afrika einzusetzen. Die Milliarden, die dort eingesetzt werden, könnten den Zuwanderungsdruck und die damit verbundenen Kosten in der EU selbst senken.
Und eine Antwort ist: Legale Zuwanderung ausweiten
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Zudem glaubt der Professor für praktische Philosophie, dass sich die EU letztlich dazu durchringen muss, die geordnete Zuwanderung im größeren Maßstab zu erlauben: „Wenn wir in Europa jedes Jahr - sagen wir - insgesamt eine Million Zuwanderer in einem geordneten Verfahren, verteilt auf die 16 EU-Staaten und nach definierten Kriterien aufnehmen, würde das wahrscheinlich die Motivation zur irregulären Einwanderung verringern.“ Die Chancen, die eine solche reguläre Zuwanderung für die Migranten, aber auch für die aufnehmenden Staaten bieten, seien enorm. Wer die Kriterien einer regulären Einwanderung erfüllt, müsste sich nicht in die Hände mörderischer Schlepperbanden begeben. Das aufnehmende Land könnte mitentscheiden, wer ins Land kommt. Zudem könnten mit einer solchen Regelung auch die jetzigen Flucht und Asyl-Verfahren ersetzt werden. Weil es kaum Wege in die reguläre Zuwanderung gebe, werde das politische Asyl derzeit oft als juristisches Vehikel genutzt. Das wiederum erhöht den Gesamtaufwand und zieht alle Verfahren in die Länge. Nichtsdestotrotz müsse dem Schutz vor politischer Verfolgung aber weiterhin eine Sonderrolle zukommen.
Ohne Antwort ist die Wertegemeinschaft entwertet
Derzeit ist allerdings nicht absehbar, dass sich die EU-Staaten für solche Regelungen gewinnen lassen: Die osteuropäischen Länder etwa lehnen praktische jede Zuwanderung ab. Aber solange es keine Einigung gibt, lebt Europa damit, dass es seine eigenen Werte und geltendes Recht missachtet. Das stellt auf Dauer den Daseinsgrund der jetzigen EU in Frage. Oder aber, sie muss sich davon verabschieden, als Wertegemeinschaft gelten zu wollen.