Duisburg. Das Stück „Der Tod und ein Mädchen“ führt in die deutsche Geschichte und zu einem Familiengeheimnis. Warum es ein herausfordernder Abend ist.

Nachdem der Schauspieler Dirk Schäfer mit seinem Jacques-Brel-Chanson-Abend Anfang September sein Duisburg-Debüt im Foyer III des Stadttheaters gegeben hat und bevor beim Theatertreffen im März sein Stück „Hinter den Wölfen“ zu sehen ist, erlebte am Samstag „Der Tod und ein Mädchen“ die Uraufführung auf der großen Bühne. Es ist eine Herausforderung.

Widmet sich Schäfer doch den nationalsozialistischen Massenmorden von mindestens 216.000 behinderten oder erkrankten Menschen aus „rassehygienischen“ Gründen. Euphemistisch hieß es damals „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ und „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“, nach dem Krieg wurden die Morde als „Aktion T4“ bezeichnet.

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Schäfers Zugang zu diesen Verbrechen ist ein persönlicher, hat seine Mutter doch eine entfernte Verwandte im Böhmerwald „in vier Sätzen“ erwähnt, die ihn seit 20 Jahren nicht losgelassen hätten, so der Schauspieler: Es sei da ein Mädchen gewesen, das wohl geistig behindert war. Sie sei getötet worden, sie habe eine Spritze bekommen.

Die Suche nach dem namenlosen Mädchen

Schäfer mach sich auf die Suche nach „dem Mädchen“, an dessen Namen sich keiner in der Familie erinnert. Er nimmt das Publikum mit auf eine „Heimreise“, wie er es nennt, die begleitet wird von den Musikern Ferdinand von Seebach (Klavier), Wolfram Nerlich (Bass), Wassily Dück (Akkordeon) am linken Bühnenrand – und der brasilianischen Schlagzeugerin Angela Frontera auf der rechten Seite.

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Der Abend beginnt wie ein Märchen. „Es war einmal ein kleines Dorf im Böhmerwald...“ zeichnet Schäfer ein idyllisches Bild vom Dorfleben mit Festen und vielen Kindern. „Du bist ein loses Blatt“, sagt er über das Mädchen. Diesem Blatt jagt er nach, es treibt ihn immer weiter bei seiner Suche. Das Lied „Schwesterlein, Brüderlein“ klingt immer wieder an, es birgt ein Geheimnis.

Unterwegs zu Orten und Gefühlen

Die Spurensuche von Dirk Schäfer wird musikalisch begleitet. Am Akkordeon: Wassily Dück.
Die Spurensuche von Dirk Schäfer wird musikalisch begleitet. Am Akkordeon: Wassily Dück. © Schauspiel Duisburg | Sascha Kreklau

Schäfer nimmt das Publikum mit in Gedenkstätten, in „Heil- und Pflegeanstalten“, in deren „Kinderfachabteilungen“ einstmals von Ärzten und Schwestern gemordet wurde und die heute Psychiatrien sind. Er versucht, die entfernten Familienbande zu entwirren. Er stellt sich vor, wie dieses Mädchen gewesen sein mag, er versucht, sich in ihre Lebensfreude, ihre Nöte und Ängste hinein zu versetzen. Und fragt sich dabei: Was mache ich hier?

Er verbindet nüchterne Informationen mit dem Eintauchen in Gefühle, sachliche Schilderungen mit poetischen Passagen, stille Reflexionen mit wilden Ausbrüchen. Er findet schließlich den Namen des Mädchens und einen Totenschein, er entdeckt, dass die Familie anderes erzählt hat. Dass nahe Verwandte des Mädchens bekennende Nazis waren, dass es Widersprüche gab und viel Schweigen.

Dirk Schäfer spielt wie um sein Leben

Es ist viel Text, den sich Schäfer als Solist und dem Publikum zumutet. Und auch als Sänger, der vom schlichten Volkslied übers warme Lebenslob bis hin zur Kopfstimmen-Klage alle Register zieht, und Darsteller schont sich der Schauspieler nicht, der die große Bühne nahezu allein mit seiner Präsenz füllen will. Wesentlich unterstützt wird er von seinen kongenialen Musikern, vor allem von Angela Frontera, die das Mädchen mit ihrer Mimik, ihren vielfältigen Geräuschinstrumenten und ihrem Schlagzeug „sprechen“ lässt. Am Ende mündet das in einem wütenden Schlagzeuggewitter.

Es ist ein herausfordernder Abend auch fürs Publikum, es sind viele Worte, manchmal zu große Gedankensprünge und extreme Wendungen, die da von Dirk Schäfer gesagt und gefordert werden, der wie um sein Leben spielt. Diese Unbedingtheit ist zugleich faszinierend. Und bekommt viel Beifall.

>> DIE NÄCHSTE VORSTELLUNG IM NOVEMBER

  • Den Abend hat Dirk Schäfer mit seiner Kollegin Ellen Dorn entwickelt, die musikalische Leitung hat Ferdinand von Seebach, Ausstatterin ist Christine Hielscher.
  • Das Stück ist entstanden als Koproduktion mit dem Schauspiel Duisburg. In der ersten Hälfte der Spielzeit steht es noch einmal am 13. November um 19.30 Uhr auf dem Programm. Info: www.theater-duisburg.de