Duisburg. Der Duisburger Wilfried Schaus-Sahm hat bisher über 300 Konzerte organisiert. Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben: Grappellis Geigenkasten.
Das blanke Entsetzen steht manchem der honorigen Gäste ins Gesicht geschrieben. Es ist die Eröffnungsveranstaltung der 20. Duisburger Akzente zum Thema „Die Kraft des Alters“ und den musikalischen Höhepunkt des Festaktes soll der berühmte Jazzgeiger Stephan Grappelli setzen. Doch der Mann, der da im Rollstuhl auf die Bühne der Mercatorhalle gefahren wird, jagt vielen Zuschauern den Schrecken in die Glieder. Abwesend, hinfällig und völlig kraftlos wirkt er, kaum im Stande auch nur seinen Kopf zu heben, geschweige denn Geige zu spielen. Doch als sein junger Helfer ihm das Instrument in Hände legt, wird das Publikum Zeuge einer wundersamen Wandlung. Grappellis zusammengesunkener Oberkörper richtet sich auf, die Finger finden Bogen und Saiten und zaubern mit atemraubender Gelenkigkeit mitreißende Töne. Die Schreckensstarre weicht überbordendem Jubel und am Ende erntet der greise Grappelli für diesen Auftritt, der einer seiner letzen sein wird, stehende Ovationen, für die sich der so plötzlich um etliche Jahre verjüngt erscheinende Künstler mit Kusshändchen bedankt, die er fröhlich in die Menge wirft, während er von der Bühne gefahren wird.
Schock beim Soundcheck
Einer, dem der erste Anblick des 88-jährigen Grappellis schon zuvor einen Schock versetzt hatte und der beim Soundcheck erleben durfte, wie belebend die Kraft der Musik den greisen Mann durchströmte, ist Wilfried Schaus-Sahm. Er hatte damals 1996 die Aufgabe, für die „Alters-Akzente“ ein passendes musikalisches Programm zu entwerfen und die Musiker zu engagieren. Es war die erste Aufgabe für ihn nach seinem Wechsel ins Duisburger Kulturamt und der Startschuss für Veranstaltungen, die Musikliebhaber von weit jenseits der Stadtgrenzen nach Duisburg zogen. Jetzt hat Schaus-Sahm ein Buch veröffentlicht, in dem er sich an einige Begegnungen in seiner reichhaltigen und langjährigen Tätigkeit als Veranstalter und künstlerischer Leiter der Traumzeit, der Marienthaler Festspiele und des Sommerton-Festivals erinnert: „Grappellis Geigenkasten“.
Kein Blick zurück im Zorn
Sein Blick zurück ist keiner im Zorn, auch wenn das allzu verständlich wäre, angesichts der Umstände, die dazu geführt haben, dass die von Schaus-Sahm 1997 ins Leben gerufene Traumzeit seit 2009 eine andere künstlerische Leitung hat, die zwar den guten, etablierten Namen des Festivals weiterführt, aber musikalisch in eine völlig andere Richtung geht. Geschenkt!
Schaus-Sahms Erinnerungen sind eine Sammlung verschiedener Anekdoten, die er mit Künstlern, aber auch mit Managern, Sponsoren, Honoratioren sowie Stadt- und Landesbediensteten erlebt hat. Sie geben Einblicke in sein Leben, das geprägt ist von der Leidenschaft für Musik und das ohne diese – wie Nietzsche sagen würde – wohl ein Irrtum wäre. Schaus-Sahm erzählt von außergewöhnlichen Begegnungen mit bedeutenden Künstlern, aber auch mit arroganten Managern, wie dem von Jan Garbarek der einen Heidenaufstand machte, weil das falsche Mineralwasser auf dem Cateringtisch stand. Seine Schilderungen gewähren Einblicke in das Veranstaltungswesen und zeigen auch wie schmal der Grat zwischen großem Erfolg und bitterer Niederlage sein kann.
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Duisburg als Mekka der Jazzmusik
Ergänzt hat Schaus-Sahm diese mal kürzeren, mal längeren Schlaglichter durch eine kleine Geschichte über die kurze Zeit, als Duisburg das Mekka der Jazzmusik war und in dem legendären Jazzclub „Bohème“ Größen wie Buddy DeFranco, Red Norvo und Billie Holiday aus den USA, aber auch der junge Klaus Doldinger und die begnadete Pianistin Jutta Hipp auftraten. Eine Zeit, in der dieser Jazzkeller mit dem Flair des berühmten Pariser Existenzialisten-Clubs „Tabou“ magnetische Anziehungskraft auch auf Düsseldorfer Publikum ausübte, weil die Musik damals eben in Duisburg spielte.
Schatzkästlein der Erinnerungen
„Grapellis Geigenkasten“, in dem der alte Jazzgeiger als Kleinod ein Foto seiner Audienz bei „Queen Mom“ verwahrte, ist aber vor allem auch ein Schatzkästlein der Erinnerung für all diejenigen, die eines der zahlreichen am Ende gelisteten von Schaus-Sahm organisierten Konzerte miterlebt haben. Egal, ob sie dabei waren als Willy DeVille – ganz seine eigene Inszenierung zwischen Fürst der Finsternis und abgezocktem Falschspieler auf einem Mississippi-Rad-Dampfer – mit morbider Eleganz und gelacktem Menjou-Bärtchen-Charme eine fast private Atmosphäre in die höllengroße Kraftzentrale zauberte, oder ob sie zu denen zählten, mit denen die „schwarze Rose von St. Germain“ – die unvergessene Juliette Gréco – bei ihrem grandios-dramatischen Auftritt „Liebe machte“, wie sie es nannte. Egal, ob sie sich von Goran Bregovićs „wildem Haufen“ ausgelassen haben mitreißen lassen und dabei fürchteten, dass das Dach der Kraftzentrale am Ende abhebt, oder ob sie geschmeidig ihre Hüften bewegten zu den Son-Klängen der kubanischen Rentnerband aus dem Buenavista Social Club um Ruben Gonzales und Ibrahim Ferrer.
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Auch wenn die persönlichen Highlights nicht unter denen zu finden sein sollten, die Schaus-Sahm für seine Anekdotensammlung ausgewählt hat, so gibt das schmale Bändchen doch reichlich Anregung, sich noch einmal in die eigenen Konzerterlebnisse einzufühlen und das Glück zu empfinden dabeigewesen zu sein.
Wilfried Schaus-Sahm: „Grappellis Geigenkasten – Konzertanekdoten“, 192 Seiten, ISBN 9783752689310, Preis: 24,99 Euro.