Duisburg. Eine Ausstellung im Lehmbruck-Museum erinnert an einen der wichtigsten Künstler der Nachkriegsmoderne. Und damit an die Kunst der 50er Jahre.

Dass der unbekannte britische Künstler Lynn Chadwick 1956 den Preis für Skulptur auf der Biennale von Venedig erhielt – und nicht die weitaus anerkannteren Favoriten Alberto Giacometti oder Germaine Richier – spricht dafür, dass er mit seinen Skulpturen überraschte und den Nerv der Zeit traf. Vor allem die Formensprache der 50er Jahre ist es, denen man in der Ausstellung „Biester der Zeit“ im Lehmbruck-Museum begegnet.

Ausgangspunkt für die die umfangreiche Ausstellung mit rund 70 Plastiken eines „der wichtigsten britischen Künstler der Nachkriegsmoderne“, so Museumsdirektorin Dr. Söke Dinkla, ist ein Werk aus der eigenen Sammlung, das anlässlich einer Chadwick-Ausstellung 1960 erworben wurde: Eine seiner „Stranger“-Figuren, auf zwei Beinen hoch aufgerichtet und daher menschlich, kopflos, dafür aber mit großen fledermausähnlichen Flügeln ausgestattet, die sowohl als Empfang mit offenen Armen als auch als abschreckende Geste gedeutet werden können. Sie steht damit für die Ambivalenz, die es so schwierig macht, Chadwicks Bildsprache zu deuten.

Eine „Stranger“-Figur von Lynn Chadwick, die fremd, aber nicht bedrohlich wirken.
Eine „Stranger“-Figur von Lynn Chadwick, die fremd, aber nicht bedrohlich wirken. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

„Ochsenfrosch“ mit scharfen Zähnen

Der 1914 in London geborene Künstler war Pilot im 2. Weltkrieg und anschließend technischer Zeichner. Zur Kunst kam er als 40-Jähriger autodidaktisch. Es begann mit Mobiles, wie die retrospektiv angelegte Ausstellung zeigt. Bald wandte er sich geerdeten „Stabiles“ zu aus Drahtgittermodellen, die mit einer Masse aus Gips und pulverisiertem Eisen gefüllt wurden. Schon im frühen „Ochsenfrosch“ von 1951 mit seinen scharfen Zähnen ist ein zentrales Chadwick-Motiv zu erkennen: Fantastische Wesen, die an Tiere erinnern – oft an zarte Insekten, die kurz vorm Abflug scheinen, manchmal auch an massigere Vierbeiner wie Rinder oder Pferde, die auf dünnen Beinen balancieren.

Und auch den menschlichen „Sitzenden“ oder „Tänzern“ verleiht Chadwick eine skurrile Note, indem er sie auf geometrische, gern spitze Formen reduziert und ihre starken, wie mit Überwürfen verhüllten Körpern zarte Beinchen und kleine Nicht-Köpfe aus Recht- oder Dreiecken oder Haken aufsetzt. Sie sind von großer Präsenz, aber eben auch von grotesker Komik.

Die Eroberung des Weltraums als Menschheitstraum

Als Pilot und Kriegsteilnehmer hat sich Chadwick auch mit dem technischen Fortschritt und den Bedrohungen seine Zeit beschäftigt. Die Arbeiten der Werkgruppe „Moon of Alabama“ von 1957 erinnern an den Erdtrabanten, an Satelliten und Raketen und damit an die Eroberung des Weltraums als Menschheitstraum. Und sie deuten hin auf die Gefahren des Kalten Kriegs, aus dem ein Atomkrieg werden könnte.

Sitzendes Paar auf einer Bank: Eine Bronze-Skulptur von Lynn Chatwick aus dem Jahr 1984.
Sitzendes Paar auf einer Bank: Eine Bronze-Skulptur von Lynn Chatwick aus dem Jahr 1984. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich


Im Spätwerk, bei dem Chadwick vom dunkel-betongrauen Material der frühen Arbeiten zu glänzendem Edelstahl wechselt, bleibt er bei seinen Tier-Mensch-Motiven. Sie glänzen in der Glashalle des Museums: Das „Aufgebrachte Biest“ von 1990, das zum Sprung bereit scheint, die „Sitzenden Figuren“ mit ihren rechteckigen, TV-Geräten gleichenden Schädeln, das „Geduckte Biest“, das sich offenbar bedroht fühlt – bei aller Abstraktion strahlen sie Charakter und Emotionen aus.

Chatwicks mehrdeutige Kunst hat Humor, was er auch an dem Ort beweist, den er sich von seinen ersten finanziellen Erfolgen kaufte und in 45 Jahren zum einem Skulpturenpark erweiterte. Auf seinem Anwesen Lypiatt Park in Gloucestershire, wo er 2003 starb, platzierte er seine Skulpturen nicht dort, wo sie am besten wirken oder anzuschauen wären – sondern dort, wo sie die schönste Aussicht haben.