Duisburg. Eine Studie belegt, dass durchschnittlich in jeder Schulklasse ein pflegendes Kind ist. Unterstützung gebe es für diese Kinder nicht genug.
Eine Studie von Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing zeigt: Viele Kinder müssen sich um den Haushalt, die Geschwister und die erkrankten Eltern kümmern. Der Förderverein für Palliative Arbeit Duisburg und die „Young Supporters“ sensibilisieren nun Schulsozialarbeiter für das Thema.
Sie putzen die Wohnung, verabreichen Tabletten, wechseln Verbände, leeren den Urinbeutel – Kinder pflegen häufiger ihre Mutter, den Vater oder ihre Geschwister, als bisher angenommen. Das zeigt die aktuelle Studie der Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing, die sie im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium durchführte. Duisburgs Förderverein für Palliative Arbeit und die Trauma-Therapeutinnen von „Young Supporters“ unterstützen nun Schulsozialarbeiter, um Ängste und Scham der betroffenen Kinder und Eltern abzubauen und ihnen zu helfen.
120 Schulsozialarbeiter werden sensibilisiert
„Durchschnittlich sitzt in jeder Klasse ein Kind, das sich um einen Familienangehörigen kümmern muss“, sagt Hartmut Kowsky-Kawelke vom Förderverein für Palliative Arbeit. Das Thema sei ein großer, weißer Fleck, weil es oft tabuisiert wird; Institutionen würden zu wenig kooperieren. Das möchte der Förderverein ändern. In einer Veranstaltungsreihe sensibilisieren Mitarbeiter die rund 120 Schulsozialarbeiter in Duisburg, um rechtzeitig helfen zu können.
„Kinder und gerade Eltern haben oft Angst vor Behörden. Die Sozialarbeiter an den Schulen werden aber anders wahrgenommen, sie haben Zeit zuzuhören und zu beobachten – sie genießen Vertrauen und das ist die Basis, damit wir Hilfestellungen anbieten können“, sagt Stefan Liebig, Koordinator der Schulsozialarbeit. Ziel ist es, dass betroffene Kinder entlastet werden. „Wenn Kinder den Partner oder einen Elternteil übernehmen oder ersetzen müssen, dann überschreiten sie die Grenzen der Belastbarkeit – das sollte keinem Kind widerfahren“, meint Liebig.
Überlastete Kinder müssen meist in Therapie
Die Folgen für pflegende Kinder können laut Sabine Metzing unterschiedlich sein. Betroffene seien sehr selbstständig, frühreif, bewiesen ein hohes Maß an Organisationstalent und werden gemeinhin als „Kümmerer“ bezeichnet. Doch die Gefahren sind zu hoch, gerade wenn die Aufgaben den Alltag dominieren: „80 Prozent sind in psychotherapeutischer Behandlung oder müssen sich dorthin begeben“, berichtet Metzing. Einige haben körperliche Probleme, etwa weil sie schwer tragen oder den Angehörigen drehen und heben müssen. Zudem könnten soziale Kontakte wegbrechen, weil sie zu viel Zeit mit der Pflege verbringen. „Viele finden keine Ausbildung oder brechen sie ab, weil das Verantwortungsgefühl gegenüber der Familie höher ist als das eigene Empfinden.“
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Sabine Metzing von der Universität Witten/Herdecke und ihr Team haben in NRW über 6300 Kinder und Jugendliche befragt, die zwischen zehn und 22 Jahren alt sind. Sechs Prozent tragen eine sehr hohe Pflegeverantwortung, meistens für chronisch erkrankte Mütter; sie helfen im Haushalt, bei der Medikation, bei der körperlichen Hygiene, kümmern sich um ihre Geschwister. „Hochgerechnet sind in Deutschland knapp 500.000 Kinder für die Pflege ihrer Angehörigen verantwortlich“, ist der Studie zu entnehmen. Häufig trügen Mädchen die Last. Ursachen sieht die Wissenschaftlerin in dem viel zu kleinen Hilfesystem für Kinder und Jugendliche, das sie kennen und nutzen könnten. Vielen Betroffenen fehle es an familiärer und sozialer Unterstützung. „Das Thema muss relevant im gesellschaftlichen Bewusstsein und enttabuisiert werden.“
Eltern-Kind-Rollen sind vertauscht
Dafür sprechen sich auch die Therapeutinnen Mariel Pauls-Reize und Christiane Honig von „Young Supporters“ aus. Der Verein aus Rheinhausen unterstützt Kinder und Jugendliche bei Krisen und Trauer. „Wir beraten und begleiten die Kinder durch den Prozess“, sagt Mariel Pauls-Reize. Sie erlebe es oft, dass Krankheit und Tod scham- und angstbesetzt sind. Niemand wolle den anderen traurig machen, „also versucht man es so lange, bis die Eltern-Kind-Rollen vertauscht sind und es eigentlich viel zu spät ist.“
Deswegen müsse man Räume schaffen, in denen gesprochen und zugehört werden kann, man müsse die Kinder entlasten und ihnen Sicherheit geben. „Vor allem muss die Angst genommen werden, vor Vereinen und Institutionen, die frühzeitig helfen können.“ Allerdings müsse professionelle Hilfe nicht nur organisiert, sondern auch finanziert werden. „Pflegende Kinder – das Thema sollte auf der nächsten Gesundheitskonferenz der Stadt unbedingt besprochen werden“, findet Hartmut Kowsky-Kawelke.