Duisburg. . Eine Erzählung vom Widerstand: Das Thalia-Theater inszenierte beim Theatertreffen beeindruckend Falladas „Jeder stirbt für sich allein“.

Im Hintergrund türmt sich bedrohlich die Stadt Berlin. Dunkel, unübersichtlich, eine hauptstadtgewordene Metapher für die schweren Wolken der NS-Zeit, die zu Beginn der 40er Jahre über Deutschland, Europa und der Welt liegen. Davor, anders als die Draufsicht auf Berlin an der Rückwand, liegt horizontal der Mikrokosmos der Bühne, auf der das Ensemble des Thalia Theaters Hamburg unter der Regie von Luk Perceval beim Akzente-Theatertreffen am Samstag eine Inszenierung vonHans Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“ zeigt. Auf den ersten Blick ist das Stück, wie seine literarische Vorlage, eine Erzählung vom Widerstand, und auch auf den zweiten Blick.

Vierstündige Aufführung

Bloß gibt es hier, in dem fast vierstündigen Mammutwerk, keine geläuterten Wehrmachtsoffiziere, keine Bomben oder gar einen Auftritt von Adolf Hitler, der große Dämon selbst taucht oft nur in Form seines Grußes auf. Nein, es geht „nur“ um das Ehepaar Quangel, Otto und Anna, die Fallada nach dem Ehepaar Otto und Elise Hampel entwickelt hat. Der Widerstand der Eheleute, nachdem ihr Sohn im Krieg gefallen ist, ihre Denunziation und der Tod sind die offensichtlichsten Ebenen der Inszenierung, wenn auch nicht ihre wichtigsten. Mit den Worten „Mutter, der Führer hat mir meinen Sohn ermordet“ beginnt die erste Postkarte, die erste von mehreren Hundert Hitler- und NS-kritischen Karten, die die beiden in Wohnhäusern in Berlin platzieren. Doch der Widerstand fliegt auf, nach vielen Verhören und Verhandlungen wird Otto Quangel enthauptet, Anna Quangel stirbt bei einem Bombenangriff.

Viel wichtiger noch als die Widerstandsgeschichte ist für die Inszenierung Luk Percevals aber der Mikrokosmos, in dem sich die Handlung entspinnt. Rund um das Ehepaar Quangel kämpfen sich verschiedene Charaktere durch das Kriegs- und NS-geschundene Berlin. Gelegenheitsdiebe, Schauspieler, SS-Soldaten, alle dieser Leben werden in einer Form von den Postkarten der Quangels berührt.

Ensemble mit Barbara Nüsse und Thomas Niehaus

Das durchgängig großartige Ensemble, allen voran Barbara Nüsse in mehreren Rollen und Thomas Niehaus als Otto Quangel, stellt mit kleinen Gesten, mit feinen Nuancen in der Sprache oder auch mal mit dem schauspielerischen Vorschlaghammer die Gefühlswelt der Charaktere zur Schau. Etwa die kalte, wenn auch vielleicht nicht liebeslose, Ehe der Quangels, die Entwicklung und emotionale Befreiung der Ehepartner unabhängig und räumlich getrennt voneinander - „für sich allein“ eben. Genauso aber auch den Alltag und die Alltagssorgen von Menschen zu einer Zeit, die heute so grausam und dunkel wirkt, dass ein Alltag in ihr eigentlich unvorstellbar ist. Aber genau das schaffen Ensemble und Team in ihrer hervorragenden Inszenierung von „Jeder stirbt für sich allein“: Eine erschreckende, aber notwendige Momentaufnahme des „normalen“ Lebens in der NS-Zeit, ohne große Gesten und große Fallhöhe.

Das Stück erzeugt einen ähnlichen Effekt wie Filmaufnahmen oder Farbfotos aus der Zeit des ­Dritten Reichs: Man will nicht ­glauben, dass diese Zeit einmal Realität war. Denn wenn man es tut, wächst das Grauen ins Unermessliche und zeigt: Wenn wir nicht aufpassen und kämpfen, kann sich diese Realität ein weiteres Mal materialisieren.

>> EHELEUTE HAMPEL ALS ROMANVORLAGE

Die historischen Vorbilder der Quangels, Otto und Elise Hampel, lebten im Wedding und riefen in ihren Flugzetteln zum Widerstand gegen das NS-Regime und zur Behinderung der Kriegsplanungen auf. Sie wurden im Oktober 1942 von einer Denunziantin verraten und nach ihrer Verhaftung wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ und „Vorbereitung zum Hochverrat“ zum Tode verurteilt. Am 8. April 1943 wurde das Ehepaar hingerichtet. H ans Fallada rekonstruierte den Fall für seinen Roman aus den Prozessakten der Verhandlungen gegen das Ehepaar Hampel