Duisburg. Antje Frohnert Ballon pflegt seit fast 20 Jahren ihr schwerstbehindertes Kind. Warum sie auf die Barmer und den MDK nicht gut zu sprechen ist.
Mühsam schiebt Antje Frohnert Ballon den schweren Rollstuhl mit ihrer Tochter Lina über eine Rampe ins Auto. Viel Kraft braucht die Rumelnerin – aber nicht nur dafür. Nach fast 20 Jahren intensivster Pflege ihres geistig und körperlich schwerst behinderten Kindes kann sie sich kaum noch ohne Schmerzen bewegen. Aktuell wurde ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert. Dazu kommt die psychische Belastung. Nur selten kann die 50-Jährige das eigene Haus verlassen. geschweige denn einen Beruf ausüben. Gerne würde Antje Frohnert Ballon mit ihrer Tochter Lina mehr erleben, „weil wir nur eine sehr begrenzte Zeit zur Verfügung haben“.
Elektro-Rollstuhl mit Lagerungs- und Stehfunktion sei notwendig
Lina hat das 18q-Syndrom, auch als De-Grouchy-Syndrom bekannt. Sie kann nicht laufen, nicht reden, aber lautieren und sich durch Zeigen verständlich machen. Die 19-Jährige ist ein fröhlicher Mensch, wenn es ihr gut geht, sagt die Mutter, die selbst aber zunehmend verzweifelt. Ein Elektro-Rollstuhl mit Lagerungs- und Stehfunktion, so ist sie überzeugt, könnte ihr das Leben erheblich erleichtern. Er sei aber vor allem medizinisch notwendig für ihre Tochter.
Seit einem Jahr kämpft die Rumelnerin dafür. Auf die Barmer und den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ist Antje Frohnert Ballon nicht gut zu sprechen. „Bei einem Treffen mit dem MDK gipfelte das Ganze in dem Satz eines Arztes, der meinte, dass die Barmer für Lebensqualität nicht zuständig sei.“
Elektro-Rollstuhl brachte Lina zum Strahlen
Lina, so erklärt die Mutter ihr Anliegen, habe in der Schule immer eine 1:1-Betreuung gehabt. „Nun, mit 19 Jahren, ist sie in der Caritas-Werkstatt in Rheinhausen. Dort kann bei Gruppen mit teilweise bis zu 20 Mehrfachschwerstbehinderten und einem Betreuungsschlüssel von 1:4, wenn alles passt, ein regelmäßiges Lagern und Stehen nicht garantiert werden.“ Deshalb der Wunsch nach einem speziell ausgerüsteten Elektro-Rollstuhl, der dann auch ausprobiert wurde.
„Es war für uns alle ein unglaubliches Erlebnis“, sagt Antje Frohnert Ballon. „Als Lina begriff, dass sie sich ganz alleine vorwärts bewegen konnte, da strahlte sie und wurde direkt einen Kopf größer vor Stolz. Natürlich waren ihre ersten Versuche noch unbeholfen, aber mit jedem weiteren Tag machte sie Fortschritte.“
Also wurde mit dem MDK Kontakt aufgenommen. Insgesamt drei Termine gab es zur Begutachtung – immer mit dem gleichen Ergebnis: Der gewünschte Elektro-Rollstuhl wurde abgelehnt. „Es kann bisher nicht ausgeschlossen werden, dass Lina sich und andere Personen beim Fahren des Elektro-Rollstuhls gefährdet. Sie konnte den Rollstuhl ohne Hilfe nicht gezielt steuern“, erklärt eine Sprecherin des MDK Nordrhein.
Eine längere Erprobungsphase
Nach der Anfrage der Redaktion ist die Barmer allerdings nun „wegen der besonderen Umstände“ bereit, Lina eine längere Erprobungsphase anzubieten. Im Raum stehen derzeit vier Wochen. Die Familie müsse allerdings die Haftung während dieser Zeit übernehmen. Eine abschließende Prüfung der Fahrtauglichkeit könne, wenn gewünscht, auch durch den TÜV und nicht durch den MDK erfolgen. „Der Barmer ist sehr daran gelegen, dass Lina bestmöglich versorgt wird“, so eine Sprecherin.
Was die Aufstehfunktion beim Wunsch-Rollstuhl betrifft, habe sich der MDK dazu allerdings in seinen drei Gutachten bereits negativ geäußert. „Da wir im Sinne aller unserer Versicherten verantwortungsvoll mit den Beitragsgeldern umgehen müssen“, so eine Sprecherin der Krankenkasse, „können wir die Kosten dafür nicht übernehmen.“ Auch mit Hilfe eines Stehtrainers mit Beckengurt und elektrischem Aufrollgurt sei es möglich, die 19-jährige Rumelnerin durch eine Person ohne Kraftaufwand aufzurichten.
Antje Frohnert Ballon ist diesbezüglich zwar ganz anderer Meinung, aber gleichzeitig froh, dass nun Bewegung in die Sache gekommen ist. „Wir haben ja nur zwei Alternativen: Entweder wir warten noch was ab oder wir kapitulieren. Zu letzterem bin ich doch noch nicht bereit.“
>>>> Eine unauffällige Fruchtwasseruntersuchung
Das De-Grouchy-Syndrom ist die Bezeichnung für zwei Typen einer chromosomalen Mutation beim Menschen, die auf Verluste verschiedener Stücke des kurzen (18p-) bzw. langen Arms (18q-) von Chromosom 18 zurückzuführen sind.
Bei Lina Ballon wurde dies im vierten Lebensmonat diagnostiziert. Während der Schwangerschaft, erzählt die Mutter, habe es eine Fruchtwasseruntersuchung gegeben – mit unauffälligem Ergebnis. „Als Lina auf die Welt kam, galt sie bis auf eine Schwerhörigkeit als gesund“, sagt Antje Frohnert Ballon. „Sie hatte dann aber immer wieder epileptische Anfälle . Nach einer Chromosomuntersuchung haben wir dann den Befund bekommen.“