Duisburg. . David Geballe (36) ist der neue Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen. „Ich möchte die Menschen zu Gott führen“, sagt er.

Seit September lebt er bereits in Duisburg, mit seiner Einführung ins Amt als neuer Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen war die feierliche Überführung der neuen Tora-Rolle ins Gemeindezentrum am Innenhafen verbunden. Im Interview spricht David Geballe über sein Amt und die Entwicklung der Gemeinde.

Wie wird man Rabbiner?

David Geballe: Rabbiner zu sein bedeutet, dass man die Erlaubnis bekommen hat, religionsgesetzliche Fragen zu entscheiden. Sie wird erteilt von gestandenen und bekannten Rabbinern. Weltweit gibt es verschiedene Programme. Es ist vor allem jahrelanges Lernen; man muss einen großen Fundus haben.

Wie lange dauert es in der Regel?

Unterschiedlich. Bei mir waren es sechs Jahre bis zur Ordination. Bei manchen sind es acht oder neun Jahre. Aber: Nicht alles muss man selbst wissen. Aber man sollte wissen, wo es steht, außerdem bleibt die Beratung mit Kollegen. Ein bekannter Rabbi in New York hat stets, wenn er jemanden ordiniert hat, seine Telefonnummer auf die Rückseite der Urkunde geschrieben.

Nach dem Abitur in die Talmudschule in Berlin

Was ist besonders wichtig?

Es gibt Bereiche wie Scheidung und Eheschließung, da sollte man alles richtig machen, oder einen Spezialisten für den Bereich fragen.

Wo suchen Sie die Antworten?

Da ist zunächst die Tora, die fünf Bücher Mose, kaum mehr als ein Büchlein. Außerdem den Talmud, die mündliche Tora, das sind rund 6800 Doppelseiten. Zusätzlich zehntausende Seiten von Kommentaren, die kodifiziert und erneut kommentiert wurden. Es gibt nur wenige Koryphäen, die alles wissen.

Das Gemeindezentrum am Springwall ist für David Geballe Arbeitsplatz und Zuhause,
Das Gemeindezentrum am Springwall ist für David Geballe Arbeitsplatz und Zuhause,

Wie verlief Ihre Ausbildung?

Nach dem Abitur im Jahr 2000 bin ich dann zu einer Berliner Talmudschule gegangen. Ursprünglich wollte ich Mediziner werden. Aber für Söhne religiöser Familien ist es üblich, vor dem Studium die Talmud-Schule zu besuchen. Das war auch mein Plan. Aber: Der Mensch denkt, Gott lenkt. Ich habe dann in New York weiter studiert, dort die Ordination erhalten, danach habe ich zwei Jahre in Jerusalem studiert. Bevor ich meine erste Rabbiner-Stelle in Fürth bekam, habe ich zwei Jahre lang einen erfahrenen Rabbiner in München begleitet.

Sie sind Angestellter der Gemeinde?

Ja, es gilt deutsches Arbeitsrecht. außerdem regelt der Vertrag weitere Verpflichtungen. Manche Rabbiner geben auch Schulunterricht.

Jüdische Gemeinden sind selbstständig

Im Vergleich etwa mit christlichen Gemeinden sind jüdische Gemeinden vergleichsweise selbstständig?

Sie sind eigene Körperschaften öffentlichen Rechts. Es gibt zwar Landesverbände – ein eher politischer Zusammenschluss. Auch der Zentralrat hat gegenüber den Gemeinden keine Weisungsbefugnis.

Auch Sie als Rabbiner stehen nicht in einer hierarchischen Ordnung?

Nein, aber bei religionsgesetzlichen Entscheidungen ist schon klar, dass bestimmte Rabbiner Entscheidungskraft haben. Sie kristallisieren sich mit der Zeit heraus.

Die Regeln sind zahlreich.

Ja, aber überwiegend sehr eindeutig. Schwierig wird es, wenn neue Dinge zu entscheiden sind, etwa in Medizinfragen, bei neuen Operationstechniken. Auch künstliche Befruchtung oder das Klonen werfen solche Dinge auf. Oder aktuell: Ist künstlich hergestelltes Fleisch koscher? Darüber findet sich natürlich nichts in der Tora, deshalb muss es diskutiert werden.

Was meint der Begriff orthodox?

Ich mag das Wort nicht. Es heißt nach hinten gerichtet, besser wäre: Tora-treu. Die Definition sagt: Das Religionsgesetz ist bindend. Da sind 99 Prozent aller Fragen ohne Abweichung geklärt.

Gleichzeitig hat sich eine große Kreativität zur Umgehung der Gesetze entwickelt.

Es gibt Bereiche, wo sich auch die Rabbinatsgerichte verbiegen, um Dinge geschehen zu lassen, wenn es um das Wohl von Menschen geht.

„Ich bin Rabbiner, kein Richter“

Wie stehen Sie als Tora-treuer denn zu jenen, die es nicht sind?

Ich bin Rabbiner, kein Richter. Gott hat den Menschen mit freiem Willen geschaffen, nicht als Roboter. Er macht klar, was er von den Menschen möchte, aber es soll nicht erzwungen werden. In der Gemeinde wird das Gesetz bewahrt, daheim muss ich niemanden kontrollieren.

Sind denn etwa die Speisevorschriften heute noch zeitgemäß?

Es ist so: Die Gesetze sind nicht von Menschenhand gemacht, sondern von Gott gegeben. Sie sind die Grundlage für alles. Die Tora wurde am Berg Sinai 600 000 Männern gegeben und dann über die Generationen weitergegeben. Das ist Kern des jüdischen Glaubens. Auf hebräisch gibt es das Wort „Glaube“ nicht. Die Übersetzung lautet „Treue“.

Ist es für Sie bedeutsam, der erste Rabbiner der Gemeinde seit dem Holocaust zu sein, der in Deutschland geboren wurde?

Ich bewerte es nicht so hoch. Ja, es ist ein Zeichen dafür, dass das Judentum in Deutschland wieder verankert ist.

Von Normalität kann keine Rede sein, solange Sie hier hinter Sicherheitsglas leben. Und Antisemitismus ist wieder ein aktuelles Thema.

Es gibt in Deutschland ein Problem mit Antisemitismus. Es ist deshalb wichtig, Präventionsarbeit zu leisten. Am besten geht das mit Jugendlichen, an Schulen, etwa durch Synagogenführungen. So bauen wir wirksamer Vorurteile ab, als wenn Offizielle aller Seiten warme Worte austauschen.

Gemeinde ist stark durch Zuwanderung geprägt 

Wie viele Gemeinden ist auch diese durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion stark gewachsen. Was heißt das für Sie?

Die größte Herausforderung ist, dass das sowjetische Regime 70 Jahre lang versucht hat, die Religion aus den Menschen zu prügeln. Das hat dazu geführt, dass Dinge und Wissen, die als normal gelten, nicht vermittelt werden konnten. Die Grundlagen fehlen oder sind komplett anders. Die Wurzeln sindoft verdorrt.

Wie viele Mitglieder zählt die Gemeinde aktuell?

Rund 2700. Ein weiteres starkes Wachstum durch Zuwanderung wird es voraussichtlich nicht mehr geben. Wer kommen wollte, ist da. Es geht nun darum, jene zu integrieren, die von Hause aus keine Bindung an eine Gemeinde hatten. Damit haben alle Gemeinden in Deutschland zu kämpfen. Es gibt dafür kein Patentrezept.

Dass Duisburg-Mülheim-Oberhausen drei Städte abdeckt, macht es schwieriger?

Ja, unser Einzugsbereich geht bis zur holländischen Grenze. Für Eltern ist es z.B. problematisch, ihre Kinder morgens durch den Verkehr von weiter her zu bringen. Viele haben Interesse und wollen ihre Kinder schicken, aber die Wege sind einfach zu lang.

Wie kam es zu Ihrem Wechsel nach Duisburg und was hat Sie gereizt?

Ich wurde angefragt, ob ich Interesse habe. Wir haben uns getroffen und wurden uns einig. Die Gemeinde in Fürth ist zwar sehr aktiv aber mit unter 400 Mitgliedern deutlich kleiner. Meine Frau und ich haben uns schon nach einer neuen Herausforderung gesehnt. Wir sehen hier großes Potenzial.

Und das Ruhrgebiet?

Am ersten Tag waren wir einkaufen und suchten Avocados. „Auf dem Exotentisch“ lautete die Antwort. Sehr lustig. Wir haben hier schon sehr schöne Ecken kennengelernt.

Hat die Frau des Rabbiners eine besondere Rolle?

Nicht offiziell, aber tatsächlich schon. Weibliche Mitglieder öffnen lieber zunächst einer Frau gegenüber ihr Herz und sprechen sie dann an, im Kindergarten ist sie die Verbindung zum Rabbiner.

>>> Zur Person: Hamburger, 36 Jahre alt und Familienvater

David Geballe ist gebürtiger Hamburger und 36 Jahre alt. Mit seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter lebt er nun auch im Gemeindezentrum am Springwall.

Zuvor war er in der jüdischen Gemeinde in Fürth tätig. Er ist Mitglied der orthodoxen Rabbiner Konferenz in Deutschland, wo er einige Ausschüsse leitet. Im Gremium sind Rabbiner aus über 50 deutschen Gemeinden zusammengeschlossen.