Duisburg. Fünf Jahre ist die Loveparade-Katastrophe her. Doch die Wunden sind noch lange nicht verheilt. Wir sprachen mit Beteiligten, Betroffenen und Justiz.
Dirk Schales stellt sich auf ein kleines Stück Kopfsteinpflaster und blickt hinauf zu der schmalen Steintreppe, die zum Symbol der Loveparade-Katastrophe geworden ist. „Genau hier habe ich damals gestanden“, sagt der 47-jährige Alt-Wanheimer. Hier im Gedränge hat er am 24. Juli 2010 mit ansehen und miterleben müssen, wie hunderte Menschen im Gedränge in panische Angst gerieten und um ihr Überleben kämpften. 21 von ihnen starben. „Das wirkte alles so unwirklich, so wie ein Film, der vor einem abläuft. Ich warte bis heute, dass der Vorhang fällt“, sagt Schales. „Doch er will einfach nicht fallen.“
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Nun steht also schon der fünfte Jahrestag bevor. Und schon wieder baut sich in Schales, der Sprecher der Betroffenen-Initiative „LoPa 2010“ ist, jene innere Unruhe auf, die seit der Katastrophe ein ständiger Begleiter ist. Auch die Alpträume kommen in Zeiten wie diesen wieder. Es sind Bilder, die seit fünf Jahren einfach nicht aus seinem Kopf verschwinden wollen. Bilder, die ihn noch heute emotional so aufwühlen, dass „es mich weghaut“.
Ein Pfandbecher als Lebensretter
Mit drei Freunden war Schales damals auf dem alten Güterbahnhofs-Gelände unterwegs, feierte die Party ausgelassen mit. „Ich bin gar kein so großer Techno-Fan – aber das Ereignis, die Stimmung und die Atmosphäre bei einer Loveparade waren immer etwas Besonderes.“ Bereits am Nachmittag hatten die Freunde genug, wollten heimgehen und nutzten dafür den einzigen Ausgang, der gleichzeitig als einziger Eingang für die Besucher diente. „Ein Kumpel wollte noch einen Plastikbecher zurückgeben, weil da Pfand drauf war. So sind wir zehn Minuten später losgekommen. Das hat uns vielleicht das Leben gerettet. Denn sonst wären wir vielleicht schon die paar Meter weiter die Rampe hinunter gewesen, die letztlich über Leben und Tod entschieden haben.“
Mindestens sechs Todesopfer mehr
Schales sagt, dass die tatsächliche Zahl der Todesopfer eigentlich bei 27 liege. „Wir wissen von mindestens sechs Menschen, die nach der Katastrophe nicht ins Alltagsleben zurückgefunden und deshalb Selbstmord begangen haben.“
Sie tauchen in der Statistik nie auf. Dabei war, stellt Schales fest, die Katastrophe der Auslöser für ihre Verzweiflungstat.
Dass sich die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage nur auf die Planungsphase der Veranstaltung fokussierte, kann Schales nicht nachvollziehen. „Was am Veranstaltungstag für Fehler gemacht wurden, bleibt völlig außen vor“, kritisiert Schales. Der eingebrochene Gullydeckel am Fuße der Rampe war nicht repariert worden, sondern mit einem Bauzaun abgedeckt. Genau das entwickelte sich später im Gedränge zur tödlichen Stolperfalle.
Rolle der Polizei außer Acht gelassen
Das hätte bei der Kontrollrunde der städtischen Behörden mit dem Veranstalter am Morgen auffallen und beseitigt werden müssen. Auch die Rolle der Polizei, die später mit ihrer Sperrkette auf der Rampe den Besucherstrom zum Erliegen brachte, sei völlig außer Acht gelassen worden. Und auf der Anklagebank, so Schales, säßen nun nur noch Bauernopfer. „Die brauchen wir nicht. Wir wollen die Verantwortlichen.“
Seinen Job als Speditionskaufmann konnte Schales nach der Katastrophe nicht aufnehmen: „Ich hatte in meinem Alltag total den Halt verloren.“ Erst langsam tastete er sich wieder heran, heute arbeitet er wieder in Vollzeit. Als Zusteller.
Arbeiten an der Gedenkstätte wie eine Therapie
Besonders wichtig war für ihn in dieser Phase die Arbeit an der Gedenkstätte im Tunnel. Die pflegte er mit einigen Mitstreitern vom ersten Tag an. „Das war für mich wie eine Therapie. Ständig kamen Unbeteiligte oder Betroffene hierher, um zu reden. Es gibt dafür keinen besseren Ort als diesen.“ Manchmal hörte er nur zu, oft schilderte er seine Erlebnisse. „Das Reden hier ist für mich das beste Druckablassen.“
Nacht der 1000 Lichter in Duisburg
Anzeigen wurden nur geprüft
Donnerstagnacht um 23.59 Uhr enden wichtige Verjährungsfristen. Denn für die Tatvorwürfe der fahrlässigen Tötung bzw. Körperverletzung, die die Staatsanwaltschaft Duisburg gegen zehn Personen erhoben hat, gelten Fristen von fünf Jahren. Sind diese abgelaufen, können mögliche Mitverursacher der Loveparade-Katastrophe, die erst im Laufe des Hauptverfahrens erkannt würden, dann nicht mehr belangt werden.
Thorolf Schmidt von der Betroffenen-Initiative „LoPa 2010“ hatte auch deshalb im April 2015 bei der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf Anzeige gegen die Staatsanwaltschaft Duisburg erstattet (wir berichteten). Tatvorwurf: Strafvereitelung im Amt. Schmidt und seine Mitstreiter erhoben schwere Vorwürfe in Richtung Staatsanwaltschaft: dass nicht gegen die Polizei ermittelt würde, dass der damals auf dem Gelände anwesende NRW-Innenminister Ralf Jäger bis heute nicht vernommen worden sei, dass die Staatsanwaltschaft die Computer der verantwortlichen Stadtverwaltungs-Kräfte wie Sicherheitsdezernent Rabe erst sechs Monate (!) nach der Katastrophe sichergestellt habe, dass es beim wichtigsten Beweisstück der Staatsanwaltschaft (dem Still-Gutachten) stets neue Pannen gegeben habe.
Generalstaatsanwaltschaft hat kein Verfahren eröffnet
Die Generalstaatsanwaltschaft hat nach dieser Anzeige nicht mal ein Verfahren eröffnet, sondern nun in einem formlosen Schreiben mitgeteilt, dass sie keinen Grund für Ermittlungen sehe. Das erklärte Marcus Brink, der Rechtsbeistand von Thorolf Schmidt. Er kritisierte am Mittwoch „handwerkliche Fehler“, die die Staatsanwaltschaft bei der Anklage gemacht habe. „Es ist nicht hinreichend ermittelt worden, wer die Verantwortung für die Katastrophe trägt“, so Brink.
Vor Jahrestagen reißt die Kruste auf den alten Wunden wieder auf
Die Hoffnung auf eine juristische Aufarbeitung der Loveparade-Katastrophe, sie ist bei Edith Jakubassa und Friedhelm Scharff mittlerweile fast verflogen. „Immer wieder gibt es neue Verzögerungen, immer wieder neue Gutachten – inzwischen haben wir alle das Gefühl, als ob die Zeit bis zum Prozessbeginnen absichtlich in die Länge gezogen werden soll“, sagt das Paar aus Hochheide, das am 24. Juli 2010 die damals 21-jährige Tochter Marina verloren hat – sie war die Einzige unter den 21 Todesopfern, die aus Duisburg kam.
Vor Jahrestagen wie dem morgigen, da komme alles sofort wieder hoch. Die Erinnerungen, die Trauer, der Verlustschmerz. Im Alltag habe sich inzwischen eine Art Schutzschicht über die psychischen Wunden gelegt, sagt Scharff. „Sonst könnte man das ja gar nicht durchhalten.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wir müssen und wollen weiterleben – nichts Anderes hätte auch Marina gewollt.“
Gegenseitiges Stützen hilft im Schmerz
Am Donnerstag gibt es für Jakubassa und Scharff ein Wiedersehen mit den anderen Eltern, die damals ebenfalls ihr Kind verloren haben. Aus dieser anfänglichen Zweckgemeinschaft ist längst eine Art Vertrauenskreis geworden. „Es ist bei den Gedenkfeiern für uns beide immer das A und O, diesen Verbund untereinander zu spüren und zu erleben. Wenn wir alle uns damals nicht gegenseitig gestützt hätten. . .“ Friedhelm Scharff braucht den Satz gar nicht zu beenden, um den emotionalen Stellenwert dieser besonderen Momente zu unterstreichen.
Marina wurde auf einem Friedhof in Moers beigesetzt. Wenn Edith Jakubassa und Friedhelm Scharff um Marina trauern wollen, dann gehen sie aber meistens nicht dorthin, sondern fast immer zur Gedenkstätte im Karl-Lehr-Tunnel. „Das ist der Ort der Katastrophe, dort ist alles geschehen. Deswegen ist dies auch für uns der wichtigere Ort des Gedenkens“, erklärt Scharff.
Der erste Jahrestag war der Schlimmste
Der schlimmste Jahrestag sei der erste gewesen, doch auch jetzt sind die emotionalen Wunden nicht verheilt. „Das werden sie auch nie. Es bildet sich immer nur eine Kruste darauf, die sofort aufreißt, wenn wir an all diese schlimmen Momente erinnert werden“, so Scharff, der derzeit nicht voll bei Kräften ist. Dennoch wollen er und seine Partnerin bei der „Nacht der 1000 Lichter“ am heutigen Donnerstag ab 20.30 Uhr an der Gedenkstätte sowie bei der Gedenkfeier am Freitagnachmittag am Mahnmal (Ostausgang des Tunnels) unbedingt dabei sein. Auch wenn das die Kruste aufs Neue wegreißt
Das lange Warten auf den Beginn eines möglichen Prozesses
Fünf Jahre sind seit der Loveparade-Katastrophe vergangenen, ein Prozess lässt aber noch auf sich warten – eben dieser Umstand ist es, der so viele Hinterbliebene, Verletzte und Traumatisierte verärgert und verbittert. Unsere Redaktion sprach mit Dr. Matthias Breidenstein, stellvertretender Pressesprecher des Landgerichts Duisburg, über den Stand der Dinge.
Die Staatsanwaltschaft Duisburg hatte im Februar 2014 gegen zehn Beschuldigte Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung erhoben – sechs von der Stadtverwaltung Duisburg, vier vom Loveparade-Veranstalter Lopavent. Dabei wurde der zuständigen Kammer des Landgerichts, die aus dem Vorsitzenden Richter Joachim Schwartz und den Beisitzenden Richtern Dr. Christina Frick und Dr. Sebastian Köhler besteht, ein Berg an Material vorgelegt.
Nur die Hauptakte umfasst 44 000 Seiten
„Allein die Hauptakte umfasst 44 000 Seiten, bei normalen Strafverfahren hat sie 200“, ordnet Breidenstein ein. Hinzu kommen mehrere Regale voller Anlagebände. Darin sind Unterlagen, die für die Hauptakte nicht relevant sind, auf die im Verfahren aber Bezug genommen werden könnte. Hinzu kommen etwa 1000 Stunden an Videomaterial.
„Alle Richter müssen all diese Materialien gesichtet haben. Deswegen sind sie auch fast vollständig für dieses Verfahren freigestellt“, erklärt der Sprecher. Hinzu kommt: Die Akte wächst ständig weiter – etwa wegen einzelner Zivilklagen, die von Betroffenen gleich in den Strafprozess mit eingebracht werden sollen.
Über 70 Anwälte auf Seiten der Angeklagten und der Nebenkläger müssen stets informiert werden – so zuletzt über das Ergänzungsgutachten eines britischen Experten, der auf Anforderung der Kammer einen nachträglichen Katalog von 75 Fragen beantworten und ins Gutachten einarbeiten musste. Bis zum 25. September 2015 müssen alle Rechtsvertreter ihre Stellungnahme zu diesem Gutachten vorlegen. „Erst dann wird die Kammer entscheiden, ob das Hauptverfahren überhaupt eröffnet wird“, so Breidenstein.
Messehalle bereits reserviert
Für die Kammer müsse es „überwiegend wahrscheinlich sein, dass eine Verurteilung der Angeklagten erfolgen kann“, so Breidenstein, nur dann gebe es ein Hauptverfahren. Das würde nicht vor 2016 eröffnet und würde wegen der gigantischen Ausmaße an Beteiligten und dem erwarteten Medieninteresse in einer Messehalle in Düsseldorf stattfinden. 50 Termine hat sich das Landgericht vorsorglich im kommenden Jahr für das Kongresszentrum gebucht. Kosten pro Tag: 14 000 Euro. Die Zahl der Prozesstage könne auf bis zu 130 pro Jahr steigen.
Nach einem Urteil vor dem Landgericht wäre nur eine Revision vor dem Bundesgerichtshof möglich. Trotzdem: Bis zu einem letztinstanzlichen Urteil dauert es Jahre.