Dortmund/Hagen. Eine brutale Attacke in Dortmund wird im Netz hunderttausendfach angeschaut. Ein Intensivtäter wird festgenommen, doch es bleiben Fragen.
Die Szenen wirken verstörend. Aus dem Nichts heraus greift der junge Mann mit FC-Barcelona-Trainingsanzug und kurz geschorenen Haaren am Bahnhof Dortmund-Hörde einen anderen jungen Mann hinterrücks an. Mit einer Flasche attackiert er ihn zumindest an den Schultern, sie zerschellt schließlich. Dann zückt er ein Messer, bedroht den völlig perplex wirkenden Angegriffenen: „Ich stech‘ Dich jetzt ab. Verpiss Dich Du Hurensohn“, schreit er ihn an und verletzt ihn tatsächlich mit dem Messer. Inzwischen weiß man: Der Attackierte wurde erheblich verletzt, musste im Krankenhaus behandelt werden.
Hunderttausendfach sind diese Gewalt-Szenen inzwischen im Internet angeschaut worden. Das Video dazu ist offensichtlich kein Zufallsprodukt. Der Trainingsanzugs-Träger wollte seine Tat aufnehmen lassen, gab dem Filmer sogar noch eine kurze „Regie-Anweisung.“ Inzwischen ist klar: Bei dem Täter handelt es sich wohl um einen 19-Jährigen aus dem benachbarten Schwerte. Er ist inzwischen festgenommen worden, ein Richter hat Untersuchungshaft angeordnet.
Und dennoch bleiben Fragen: Hätte der 19-Jährige nicht längst härter von der Justiz angegangen werden können? Ist er Teil einer Gruppe, die sich „Pedohunters“ nennen soll und unter dem Vorwand, angeblich Pädophile aufspüren zu wollen, gezielt Linke, Homosexuelle oder queere Menschen verfolgt?
Schon viele Anklagen – aber noch keine Gerichtsverhandlung
Klar ist: Der 19-Jährige hat eine Vorgeschichte. „Wir führen den Tatverdächtigen als Intensivtäter bei uns“, sagt Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli von der Staatsanwaltschaft Hagen. Die ist zuständig, weil der 19-Jährige ein „Heranwachsender“ ist, hier das Jugendstrafrecht gilt und damit die Behörde am Wohnort des Tatverdächtigen zuständig ist. Und das ist für Schwerte die Staatsanwaltschaft Hagen. Diverse Anklagen wegen Körperverletzungsdelikten gebe es schon, so Pauli. Bislang seien diese aber noch nicht verhandelt worden.
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Und in der Tat: Seit August 2022 liegt die erste Anklage beim Jugendschöffengericht in Hagen vor – es geht dabei um eine Tat aus Dezember 2021. Danach, so Amtsgerichtsdirektor Ulrich Sachse, seien zwischen Dezember 2022 und März 2023 bis zu fünf weitere Anklagen eingegangen – schwerpunktmäßig wegen Körperverletzungsdelikten. Ein Hauptverhandlungstermin ist aber nun erst für die zweite Septemberhälfte terminiert – mehr als ein Jahr nach Eingang der ersten Anklage und fast zwei Jahre nach der ersten Tat. Ist das nicht zu langsam? „Es handelt sich dabei noch um einen normalen Terminvorlauf, ausgehend von der letzten Anklage aus März 2023“, so Amtsgerichtsdirektor Sachse. „Es ist nicht unüblich, kurz aufeinander folgende Anklagen zu verbinden und gemeinsam zu verhandeln.“ In Ermittlerkreisen zeigt man sich aber erleichtert, dass der Schwerter nun in Untersuchungshaft sitzt: „Der musste von der Straße weg.“
Führender Kopf bei der Gruppe der Pedohunters?
Denn in der Zwischenzeit soll der 19-Jährige geradezu Karriere gemacht haben in einer gewalttätigen und kriminellen Szene. So stellen es zumindest linke Medien, Internetseiten und Recherchenetzwerke dar. Der Schwerter gehöre zum „Spektrum“ der so genannten „Pedohunters“, einer Gruppe, die in und um Dortmund für Schrecken sorgen soll. Andere Quellen sprechen davon, dass er dort gar ein führender Kopf sei.
Unter dem Namen „Pedohunters“ sorgen immer wieder Gruppen in mehreren Ländern für Aufsehen, weil sie mutmaßliche Pädophile in Fallen locken. Es gibt viele Beispiele im Netz zu sehen, in denen Männer auf Fake-Anzeigen oder Chats, in denen Sex mit Minderjährigen angeboten wird, eingehen. Die Pedohunters filmen angebliche Treffen, stellen die mutmaßlichen Pädophilen öffentlich bloß, rufen auch vielfach die Polizei hinzu. Als Instrument der Selbstjustiz sind die Gruppen höchst umstritten.
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In der Dortmunder Gruppe soll der Name „Pedohunters“ aber ohnehin nur ein Vorwand zu sein. Hier gehe es – so im Fall der gefilmten Attacke am Hörder Bahnhof – nur um bloße Gewalt, denn in dem Fall ist weit und breit keine Verbindung zu Pädophilie erkennbar. Der Vorwurf werde nur vorgeschoben, um Gewalt gegen Linke, Homosexuelle oder queere Menschen zu begründen, so der Vorwurf in linken Medien und Rechercheplattformen – wobei auch dieser Bezug bei dem Vorfall in Hörde nicht erkennbar ist.
Verbünden sich Rechtsextreme und Migranten-Gruppen?
Und zusätzlich aufhorchen lässt die These, dass sich bei den „Pedohunters“ in Dortmund eine unheilige Allianz gebildet habe: Hier würden sich junge Männer mit Migrationshintergrund und Männer aus der Rechtsextremen-Szene vereinen. Die sei derzeit geschwächt und suche so offensichtlich neue Mitstreiter. Was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst, findet demnach eine gemeinsame Basis in einem übersteigerten Männlichkeitsbild und der Ablehnung der liberalen, vielfältigen Gesellschaft.
Eine offizielle Einschätzung der Polizei in Dortmund dazu gibt es bislang nicht. Auch nach drei Tagen konnte eine Anfrage dieser Redaktion nicht beantwortet werden. Aus Ermittlerkreisen ist aber zu hören, dass sich diese Thesen bislang nicht erhärtet hätten, man also nicht von einer solchen organisierten Gruppe ausgehe. Gleichwohl man nicht genau einschätzen kann, ob es möglicherweise ein Dunkelfeld geben könnte. Sprich: dass sich Attackierte vielleicht aus Scham eben nicht an die Polizei gewandt haben, eben weil sie als Pädophile diffamiert worden seien – vielleicht sogar völlig zu Unrecht.
Sicherheitskreise sehen kein NRW-weites Phänomen
Dass sich in Dortmund oder gar flächendeckend eine Allianz zwischen Migranten-Gruppen und Rechtsextremen bilden könnte, fürchten wohl weder die Polizei noch der NRW-Verfassungsschutz. Wie aus Sicherheitskreisen zu hören ist, stelle man zwar immer wieder vereinzelt fest, dass es in dem gewaltbereiten Milieu Kontakte zwischen Personen gebe, die augenscheinlich nicht zusammenpassten. Dass sich eine Struktur entwickele, in der Männer aus gewaltbereiten Migrantengruppen gezielt mit Rechtsextremen zusammenarbeiten oder von diesen angeworben würden, sei aber nicht zu erkennen.
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Der 19-jährige Schwerter, der nach der Messerattacke am Bahnhof-Hörde festgenommen wurde, ist selbst Deutscher. Was er zu den Vorwürfen sagt, warum er die Tat filmen ließ, bleibt offen. Ein Anwalt, der ihn vertreten soll, wollte gegenüber der Redaktion keine Stellung beziehen.
Ohne das Video der Hörder Gewalttat wäre der 19-Jährige derzeit aber wohl weiter auf freiem Fuß. Die Messerattacke fand schon am 13. Mai statt, das 20-jährige Opfer aus Dortmund erstattete auch sofort Anzeige. Den mutmaßlichen Täter ermitteln konnte die Polizei aber erst, nachdem das Video im Internet solch eine weite Verbreitung gefunden hatte. Der 19-Jährige, der offensichtlich so viel Wert darauf gelegt hat, die Tat zu filmen, hat bei seiner Verhaftung quasi selbst geholfen.