Armut bei Kindern beschränkt sich nicht auf den Mangel an Geld. Katrin Lasser (31), Leiterin des Frauenhauses in Castrop-Rauxel, sprach mit Volontärin Kathrin Feldhofer über Gewalt, Vernachlässigung und Therapien.

Sie bieten einen Zufluchtsort für viele Frauen. Inwieweit richtet sich Ihr Angebot auch an Kinder?

Lasser: Wir sind nicht nur ein Frauenhaus, sondern auch ein Kinderhaus. Zwei Drittel aller Frauen hier sind Mütter. Meistens ruft ein Mitarbeiter des Jugendamts uns an, wenn sie Fälle von häuslicher Gewalt antreffen. Wir sehen uns als Anwalt der Kinder.

Aus welchen familiären Situationen kommen die Kinder zu Ihnen?

Häufig haben sie Gewalt entweder am eigenen Körper erfahren oder sie mussten mit ansehen, wie ihre Mutter geschlagen wurde. Andere haben psychische Gewalt erlebt, wurden weggesperrt ins Kinderzimmer.

Wie zeigt sich die Armut noch?

Wir erleben häufig, dass die Mütter gar nicht wissen, ob ihre Kinder Freunde haben, da die Kinder diese aus Angst nicht mit nach Hause bringen. Sie bringen eine große seelische Armut mit, haben fast keine sozialen Kontakte, sind teilweise komplett isoliert. Hier im Haus lernen sie erstmals so etwas wie Sprachfreiheit.

Was genau meinen Sie damit?

Hier dürfen die Kinder sagen, was sie denken, ihnen wird zugehört. Einige Kinder kennen ein alltägliches Gespräch nicht, dass die Mutter mal fragt, wie es in der Schule war. Manche sind sprachlich zurückgeblieben. Sie können zum Beispiel nicht wissen, was ein Zoo ist, wenn sie noch nie dort waren. Und das isoliert sie sehr stark von anderen Kindern, die Eltern haben, die sich sowas leisten können.

Ist den Kindern ihre Vernachlässigung auf Anhieb anzusehen?

Die Armut wird dann sichtbar, wenn man sie auszieht. Das ist ziemlich frapierend. Diese Kinder tragen meistens keine Unterwäsche, keine Socken. Die Kleidung ist ihnen zu klein. Es fehlt ihnen an Schulbüchern und -heften.

Bemerken Sie körperliche Defizite bei den Kindern?

Häufig ist es für die Kinder das erste Mal, dass sie Kontakt zu Obst und Gemüse bekommen. Die kennen sonst nur Cornflakes. Außerdem entwickeln sie häufig Aggressionen gegen ihre Mütter. Sie haben schließlich Jahre lang Zuhause nichts anderes als Gewalt erfahren. Die Mutter ist gewohnt, sich zu ducken. Und die Kinder haben nur erlebt, dass man die Mutter schlagen kann.

Erhalten die Kinder hier eine besondere Betreuung?

Die Kinder sind häufig deutlich zurückgeblieben. Sie weisen motorische Auffälligkeiten auf. Die meisten schicken wir zur Ergotherapie, andere zu einer Therapie bei Jugendpsychologen. Und das Jugendamt bietet eine sozialpädagogische Familienhilfe.

Sind diese Kinder noch in der Lage, anderen Menschen zu vertrauen?

Das Urvertrauen ist bei ihnen häufig gebrochen. Meistens kennen sie das Gefühl von Nähe gar nicht. Hier zeigt sich das in zwei Extremen: Die einen isolieren sich komplett und schauen einen beim Sprechen nicht an. Die anderen suchen ständig die Nähe, wollen auf den Schoß, weinen, wenn man nach Hause fährt.

Zeigen sich bei den Kindern auch Spätfolgen?

Ein Junge, der vor sechs Jahren mit seiner Mutter hier war, musste nun in psychatrische Behandlung. Dabei hatte er zunächst keine Auffälligkeiten. Das zeigt, wie nachhaltig die Kinder betroffen sind, wenn ihnen nicht geholfen wird. Und die Auffälligkeiten haben in den vergangenen Jahren enorm zugenommen.