Castrop-Rauxel. WAZ-Gespräch mit Suchtberaterin Gudrun Wilde-Weickert über Genuss, Gebrauch, Missbrauch und Sucht.
Alkohol, Medikamente, Glücksspiel – ein Zuviel davon kann in die Sucht führen. Bei der Fachstelle Sucht des Diakonischen Werkes gibt es professionelle Hilfe. Mit der Sozialarbeiterin und Gestalttherapeutin Gudrun Wilde-Weickert (51), die seit 1985 bei der Diakonie tätig ist, sprach Gerhard Römhild im Interview der Woche über die Volksdroge Alkohol.
Frage: Volksdroge Alkohol – ein aktueller Fluch?
Gudrun Wilde-Weickert: Alkohol ist schon lange mit der Gesellschaft verflochten. Das fängt an mit Sodom und Gomorrha, da ist es schon dokumentiert. Es war immer eine Möglichkeit, es als kulturelle Droge einzusetzen, also zur Steigerung einer Situation genauso wie zur Vermeidung oder Verdrängung. Letztlich führt sie allerdings ins Elend.
Was sind Ursachen für einen exzessiven Alkoholkonsum?
Wilde-Weickert: Es stellt sich immer die Frage, warum macht dies jemand. Und das ist in der Person behaftet. Das können psychologische Gründe sein. Es können aber auch kulturelle Gründe sein im Sinne von ,ich will dazu gehören, weil es hier in ist'. Es hat auch etwas Gesellschaftliches, hat also mit der Verfügbarkeit der Droge zu tun. Vor 40, 50 Jahren war das Geld nicht so da. Jugendliche konnten sich Alkohol nicht so einfach kaufen.
Der Weg in die Alkoholabhängigkeit. . .
Wilde-Weickert: . . .ist individuell, eher schleichend und kann lange dauern. Die Kurzform lautet: Es geht über Genuss, Gebrauch, Missbrauch zur Sucht. Das wäre eine klassische, ganz einfache Struktur einer Entwicklung.
Wie erkenne ich Alkoholismus?
Wilde-Weickert: Es gibt bestimmte Merkmale – wenn drei von diesen zehn erfüllt sind, sprechen wir von klassisch-medizinisch definierter Sucht. Es hat vor allem aber mit Kontrollverlust zu tun. Das heißt, ich kann nicht mehr kontrollieren wann ich trinke und wieviel ich trinke.
Was bewirkt extremer Alkoholkonsum?
Wilde-Weickert: Alkohol ist ein Nervengift. Es greift die Nervensynapsen an und hat deshalb etwas mit Reizübermittlung zu tun. Zunächst einmal beginnt der Körper mit dem Entgiftungsprozess. Damit wird es anstrengend für die Leber. Weiter geht's mit dem Herzen, das eine erhöhte Belastung erfährt. Auf die Dauer geht es dann auch an die Nerven. Folgeerkrankungen sind Leberzirrhose, hohler Kopf, was heißt, dass die Nervenzellen im Kopf beeinträchtigt sind. Und natürlich kann es auch die Bauchspeicheldrüse und den Magen treffen. Tja, und manchmal ist auch das soziale Organ, das man körperlich natürlich nicht findet, dran. Das heißt im Klartext: Die sozialen Bindungen gehen kaputt.
Was erwidern Sie denen, die sagen: Ich brauche Alkohol nicht und kann jederzeit wieder aufhören?
Wilde-Weickert: Machen Sie eine Trinkpause, dann können Sie sehr schnell feststellen, wo der Alkohol bei Ihnen eine Funktion hat. Das gilt übrigens auch für Gesunde. Die Fastenzeit fängt im Advent wieder an, also einfach mitmachen. Wie wäre es denn, bis Weihnachten keinen Alkohol zu trinken?
Was können Betroffene tun, um sich aus den Verstrickungen zu lösen?
Wilde-Weickert: Sich öffnen nach außen. Es gibt dieses Bild von dem Wasser, das in einem Strudel in den Siphon abläuft. Der Alkohol hat genau die Neigung, dass es nach unten weggeht. Das heißt, es kommt zu immer weniger Wahrnehmung wie es mir eigentlich geht. Das geht hin bis zur Selbstlüge. Die Gegenbewegung heißt: Ich spreche mit Leuten darüber, dass es Schwierigkeiten gibt, gehe zum Arzt oder zur Beratungsstelle, ja, auch der Pastor kann der Ansprechpartner sein, oder der Freund oder die Telefonseelsorge.
Weihnachten, Silvester, Karneval stehen vor der Tür. Was raten Sie?
Wilde-Weickert: Ja, feste feiern. Feiern muss ja nichts mit Alkohol zu tun haben. Das ist dann trotzdem fröhlich. Feste feiern hat etwas mit Genuss zu tun. Und ich sage Ihnen, es geht sogar genussteigernd ohne Alkohol. Denn was kriege ich schon mit, wenn ich zugedröhnt bin. Im übrigen habe ich nichts gegen die Genussform Alkohol, es geht immer um das Maß. Und noch etwas: Körpereigene Drogen wie freigesetzte Endorphine sind viel besser. Beispielsweise Musik, Tanzen oder Geselligkeit verschaffen ein gesteigertes Lebensgefühl.
In 2007 wurden 4000 Minderjährige mit psychischen Störungen durch Alkohol in Kliniken behandelt. Was ist da los?
Wilde-Weickert: Da hat sich eine Jugendkultur, eine regelrechte Suffkultur entwickelt, die ist erschreckend. Die hat auch damit zu tun, dass Eltern keine Traute mehr haben zu sagen: Das ist einfach Quatsch was du da machst. Neinsagen ist bei Eltern unmodern geworden. Dabei müsste es heißen: Weggucken gilt nicht.
Wie schützt man sein Kind vor Alkoholsucht?
Wilde-Weickert: Durch Vorbildcharakter. Dazu zählt auch der verantwortungsvolle Umgang mit Alkohol, wenn er im Hause ist. Aber noch wichtiger ist eine klare, glaubwürdige Beziehungen, sonst wird es problematisch.
Die Flasche in der Hand ist ein alltägliches Bild. Was ist mit einem Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen?
Wilde-Weickert: Ich sehe so etwas nicht gerne, das ist unangenehm. Aber ich weiß auch nicht, wo die Leute, die kein richtiges Wohnzimmer haben, sonst sein sollen. Mit solchen Verboten wird man das Problem nicht wirklich lösen.