Bottrop. . In Bottrop übernehmen Schüler während der Demenzwoche Patenschaften für Alzheimerkranke – und lernen fürs Leben. So wie die 20-jährige Farina, die Paolo ihr Lachen schenkt und erfährt, dass man auch als Mensch mit Alzheimer etwas bewegen kann.

Wir gehören heute zur Familie. Heike sagt, wir sollen die Wahrheit sehen, das Grauen und die Liebe. Was Alzheimer mit ihnen macht, mit Heike Taut-Franci, der Justizfachwirtin, und Paolo Franci, dem ehemaligen Gelatiere und Schlosser, im 32. Jahr ihrer Ehe. Vor einem Jahr reifte der Entschluss, mit der Krankheit öffentlich umzugehen, bei einem Erdbeerkuchen mit der Demenzberaterin Barbara Josfeld. Paolo konnte ihn noch selber treffen: „Wir haben immer sozial gelebt.“

Nun ist Paolo das Gesicht der Demenzwoche in Bottrop. Banner von Paolo hängen in der Stadt. Sie zeigen ihn inmitten von Seifenblasen – auch wenn das Vergessen diesen Menschen eher in Scherben zerschlägt. Aber „dieses letzte gemeinsame Projekt“ rundet eben doch ein Leben ab. Heike sagt: „Es ist die Krönung unseres Ehelebens ... Damit man nicht wahnsinnig wird, muss man dem Wahnsinn einen Sinn geben.“

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Die Berufsschülerin zeigt auf ihr Schild: „Farina“, steht darauf. Sie spricht ihren Namen wie zu einem verzagten Kind. Und genau so steht Paolo da bei ihrem ersten Zusammentreffen im Garten seines Zechenhäuschens vor vier Wochen. Die Hände in den Taschen, seitlich zu den Eindringlingen, dabei hat Paolo heute morgen noch zu seinem „Knuffelbär“ gesagt: „Du bist ein großer Teddy, hast keine Angst.“ Auch das bedeutet Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium: Erwachsene streicheln Plüschtiere. Paolo fällt es manchmal leichter, so mit Heike über sich selbst zu sprechen.

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Farina Heidemann lächelt unbeirrt, sie strahlt sogar. So schnell will sie nicht aufgeben, Paolo ist schließlich ihr „Patenkind“ zur Demenzwoche. Rund 30 Schüler haben solche Patenschaften angenommen in Bottrop. Sie sollen die Kranken in dieser Woche zum Zauberkünstler begleiten, auf dem Rundgang durch die Altstadt, zum Gottesdienst. Und wer weiß, was sich ergibt.

Entlastung für die betroffenen Familien ist das nicht, im Gegenteil. Aber die Schüler können Leben vermitteln – und fürs Leben lernen. Farina ist bereits zwanzig, hat über Umwege den Schulabschluss nachgeholt und ihre Berufung gefunden: Pflegerin wird sie nun. Heike sieht es so: „Wer sozial engagiert ist, hat immer eine Geschichte.“

Heike redet, Farina strahlt. Solange, bis Paolo sich Farina zuwendet und sagt: „Du bist wie ich.“

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Wir sitzen am Tisch, Heike erzählt von der Vergangenheit, Paolo greift zur Grissini-Stange. 23 Jahre ist der Eismacher Paolo, als sich Heike in seine Grübchen verliebt. Und wie er das „R“ rollt, er spricht ja überhaupt nur Italienisch bis auf diesen einen Satz: „Ich verstehe kein Deutsch, aber jeden Abend um halb elf ist Feierabend.“ Als die Eissaison beendet ist und der junge Paolo heimkehrt in die Dolomiten, erwartet Heike nicht viel. Doch dann kommen die Postkarten, drei bis vier am Tag. „Die Wahrheit musse gesagt werden: An eine schöne Mädchen mit blaue Augen.“

Paolo blickt auf von seinem Teller: „Ja, lasse doch.“

Heike Taut-Franci pflegt ihren Mann.
Heike Taut-Franci pflegt ihren Mann. © WAZ FotoPool

Heiteres Lachen, Paolo isst weiter, die Grissini-Stange zerbricht an seiner Mozzarella-Tomate. Er hat sie mit der Gabel verwechselt. Hat’s einer gemerkt? Paolo verbirgt die Grissini-Hälften unter seinem Tellerrand.

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Farinas Strahlen ist echt, aber es ist auch kein Zufall. Im Praktikum im Seniorenheim hat sie schon Demenzkranke betreut. „Das erste, was ich gelernt habe: Dass man mit ihnen über Gefühle kommuniziert.“ Ein Lachen sagt, was Worte nicht mehr können. Über ihr Lachen hat sie Paolo gewonnen. „Er erkennt Menschen, die lieben können“, sagt Heike, sie weiß: „Das wird der letzte Zugang sein.“ Sie bittet Paolo und Farina gemeinsam abzuräumen. Sie schafft Momente.

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„Die Verschluckphase ist die letzte“, sagt Heike. So geht Alzheimer zu Ende, wenn keine andere Krankheit gnädig eingreift.“

Mammina Marcella hat sich im Frühjahr nach 31 Jahren zum zweiten Mal nach Deutschland aufgemacht, um sich zu verabschieden von ihrem Sohn. Nun haben die Fotos von Paolo inmitten der Seifenblasen sie in Italien erreicht und sie aus ihrer Endlostraurigkeit geholt. Ja, sie ist stolz auf ihren Sohn.

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Jetzt ist Heike in der Küche, Paolo steht vor der Fotowand: „Hat alles Spaß gemacht.“ Daneben ein Bücherregal: Kunstbände, Ausstellungskataloge, Joan Miró. Farina blickt auf die Fotos. Hat die Bilder gesehen, die im ganzen Haus hängen, gemalt von Paolo dem Künstler, Jesus im Businessanzug, Jesus als Bergmann. „Warst Du in Venedig, Paolo?“ Er geht zum Fenster, keine Antwort. Geht zum Sessel, schlägt bedeutsam die Beine übereinander. Paolo steht wieder auf. Er tigert. Bleibt wieder vor der Fotowand stehen. „Ja, man kann nicht alles haben.“

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Demenzberaterin Barbara Josfeld betreut und begleitet die Familie.
Demenzberaterin Barbara Josfeld betreut und begleitet die Familie. © WAZ FotoPool

„Eins habe ich gelernt“, sagt Heike. „Die Leute sind nicht schlecht, sondern unsicher.“ Sie hat auf Barbara Josfeld gehört, die immer empfiehlt, offen mit der Krankheit umzugehen, um nicht zu vereinsamen. Natürlich stand Heike am Rande des Abgrunds, als die Diagnose kam, da war sie gerade 54, Paolo ein Jahr jünger. Sie wurde depressiv, grübelte über Selbstmord. „Aber irgendwann hörst Du auf zu toben, dann musst Du arbeiten.“ Heike hat eine Selbsthilfegruppe gegründet, schickt Rundbriefe an Freunde und Nachbarn. Darin erzählt sie von: Krankheitsstand. Inkontinenz. Pflegestufe 3. Wie es ist mit dem Tod aufzuwachen und ins Bett zu gehen. Aber sie erzählt auch vom Leben dazwischen.

Und die Freunde kommen. Häufiger als früher.

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Die Unterhaltung nimmt Fahrt auf, Paolo igelt. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände zusammengepresst, den Kopf gesenkt, ein Schutzraum. Darin brodelt es. Ist er überfordert? Er hat auch schon um sich geschlagen und geworfen. Das andere Extrem sind diese „Unterbrechungen“, dann verkrampft sich sein ganzes Gesicht. Vielleicht sind es auch besonders bewusste Momente, das weiß auch Heike nicht. Aber wenn sie ihn dann berührt, küsst er wie wild ihre Hände: „Wie gut, dass Du da bist.“

Jetzt klammert sich sein Blick an ein Salatblatt. Seine Unterkiefer mahlen. Da fällt ein Name: „Elke und ihr Hund“ – und Paolo zuckt auf. Er hat die ganze Zeit diesen Wortstrom gefiltert, hat nach etwa gesucht, an dem er sich festhalten kann. Elke kennt er noch.

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Vor zwei Wochen lernen Farina und Elke sich kennen. Das war Heike wichtig. Elke ist ihre Freundin und Stellvertreterin in der Selbsthilfegruppe, sie kennt Paolo und soll Farina helfen während dieser Woche. „Die könnte ich sofort adoptieren“, sagt Elke hinterher über Farina. Das Experiment ist gelungen. Paolo erkennt die Menschen selbst nicht wieder, aber ihr Lachen. Zu Farina sagt er dann solche Sätze wie: „Dich hab ich schon lange nicht mehr gesehen.“

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Eines Morgens im Bett. Paolo schläft immer mehr, will heute gar nicht raus.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragt Heike. „Paolo, sprich mit mir!“
„Dazu müsste man einen Kopf haben.“
„Hast du keinen Kopf?“
Paolo schweigt und schüttelt den Kopf, der sich so unausweichlich leert.

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Das Bild im Hintergrund hat Paolo selbst gemalt, als er noch konnte. Die Plüschtiere streichelt er nun bei Nervosität, sie helfen ihm auch bei der Kommunikation.
Das Bild im Hintergrund hat Paolo selbst gemalt, als er noch konnte. Die Plüschtiere streichelt er nun bei Nervosität, sie helfen ihm auch bei der Kommunikation. © WAZ FotoPool

Farina und Paolo treffen sich vergangene Woche noch einmal bei einem Maler. Paolo weiß gar nichts mehr mit dem Pinsel anzufangen. Bis Farina mit ihm und der Staffelei in eine Ecke geht, die Gruppe im Rücken. Da fängt er auf einmal an. Keine Figuren mehr wie früher, Ornamente, Kreise, ein Feuerwerk vielleicht. Das passt zu dem, was Heike sagt: „Wir haben unseren Trauspruch gelebt. Lasst uns nicht lieben mit Worten und mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit. Und das tun wir mit dem finalen Feuerwerk.“

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Als die Nacht wieder nur noch aus Klogängen besteht, als Paolo den Gürtel zum vierten Mal abzieht, die Brille zum dritten Mal verlegt, ständig roboterhaft am Teppich nestelt und wieder das Bier in die Blumen gießt, da gelingt es Heike, sich mal nicht zusammenzunehmen. Sie läuft in den Garten und SCHREIT.

„Neulich habe ich mit meinem Psychiater geredet“, sagt sie. „Wenn ich noch an einen Teufel glauben würde, so wäre diese Krankheit eine seiner höllischsten Erfindungen.“

Was ist Liebe? „Mein Mann und ich haben uns geliebt“, sagt Heike. „Aber es gibt nun andere, die besser für ihn sind.“ Einmal die Woche gibt sie Paolo ab in die Tagespflege. Das ist nicht einfach, viele in ihrer Selbsthilfegruppe können sich nur schwer lösen. „Die Liebenden schaffen dieses Sterben schlecht.“

Heike klingt oft theatralisch – aber sie muss gerade spüren, dass es kein größeres Drama gibt, als die Liebe ihres Lebens zerfallen zu sehen. Deswegen ist es das Gegenteil von Theater, wenn sie sagt: „Der Tod kriegt uns alle, aber wie gestorben wird, darf ich noch mitbestimmen.“

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Farina Heidemann ist Paolos Schülerpatin.
Farina Heidemann ist Paolos Schülerpatin. © WAZ FotoPool

Diese Woche wollen Farina und Paolo gemeinsam zum Zauberer, zum Seifenblasenmann, zum Gottesdienst. Es kann sein, dass Paolo nichts von all dem schafft. Er hat vor kurzem eine Thrombose bekommen, nimmt nun Blutverdünner. Auch Farina weiß, es geht nur noch bergab. Eine fremde Oma im Heim in den Arm zu nehmen, ist das eine. In dieser Familie Nähe zuzulassen, heißt, sich auf Schmerz einzulassen. „Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass es nach der Aktionswoche zu Ende ist“, sagt sie. „Ich mache solange weiter, wie es sich richtig anfühlt.“

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Was Farina schon gelernt hat – ein Heike-Spruch: „Stellt Euch den Anstrengungen – Ihr werdet sehen, wie wunderbar das Leben sein kann.“

Farina nickt. Sagt leise „Ja“.