Bottrop. Der 5. Mai ist der europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Die Corona-Pandemie trifft sie mit besonderer Härte.

„Deine Stimme für Inklusion – mach mit!“ ist das Motto des europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai. Hier sind Stimmen aus Bottrop. Sie erzählen von schon Erreichtem, noch Notwendigem und den Herausforderungen durch die Corona-Pandemie.

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Wenn Sonja Steinig (51), Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenvereins, nach dem Stand der Inklusion gefragt wird, nennt sie zunächst Positives. „Es ist mittlerweile entspannter geworden. Angefangen bei den Gehwegen mit ihren Leitlinien, den Informationen am ZOB, dem ganzen digitalen Angebot. Auch Handys sind für uns ein Riesenvorteil. Insgesamt gibt es viele Hilfsmittel für uns.“ Probleme im Alltag machen Dinge wie einfach hingeworfene Leih-E-Scooter oder die immer zahlreicher werdenden Elektro-Fahrzeuge, die Betroffene nicht kommen hören. Man könnte diese mit Geräuschen ausstatten, „aber ob das installiert wird, weil eine Minderheit der Gesellschaft das braucht oder möchte, das ist fraglich“.

Vorsitzende des Bottroper Blindenvereins: „Man sollte den Menschen mehr zutrauen“

Was Bildung und Arbeitsleben angeht, gebe es gute Möglichkeiten für Blinde und Sehbehinderte – auch wenn diese zahlreicher sein könnten. Vor allem aber findet die 51-Jährige: „Man sollte den Menschen mehr zutrauen.“ Sie selbst machte die Erfahrung, zwar von Institutionen als Ehrenamtliche geschätzt zu werden, aber dort keinen Mini-Job bekommen zu haben. „Einmal hieß es, es bestehe die Gefahr, dass ich den Kaninchenstall offen lasse. Ich bin sehbehindert - aber nicht blöd“, entrüstet sich die Bottroperin, die sich von der Gesellschaft generell mehr Achtsamkeit wünscht.

Die Corona-Pandemie empfindet Sonja Steinig als besondere Härte. So muss in den Supermärkten jeder Einkaufswagen nutzen - Blinden ist das häufig schlicht nicht möglich. Maskenpflicht-Schilder, Absperrungen, Richtungspfeile auf dem Boden, Plexiglasscheiben an Kassen – oft nicht zu erkennen. „Es gibt immer noch viele hilfsbereite Menschen“, so Steinig weiter. Dennoch spüre man, dass die Menschen in der Pandemie mehr auf Abstand gehen, wenn man sie um Hilfe bittet. Zudem: Ohne die regelmäßigen Treffen der Gruppe (erreichbar unter 02041 40 55 212) vereinsamten viele Menschen momentan zu Hause.

Von der Politik fordert sie, „dass man Menschen mit Behinderung bei Entscheidungen auch mit einbezieht.“

Werkstattbeschäftigte sind in den Corona-Pandemie-Monaten empfindlicher geworden

Silke Kniest (52) ist seit zwölf Jahren Beschäftigte im Werkhaus 2 der Diakonie und Vorsitzende des Werkstattrates. In dem Werkhaus arbeiten Menschen mit psychischen Erkrankungen im Bereich der Elektromontage. So produzieren sie etwa die Lichtschienen für die Aldi-Regale. Silke Kniest - sie hat eine bipolare affektive Störung - ist selbst ganz gut durch die Corona-Krise gekommen, doch die zwischenzeitliche Schließung der Werkstätten habe anderen sehr zu schaffen gemacht: „Für viele ist die Betreuung weggebrochen und die Tagesstruktur weggefallen.“ Diakonie-Sozialarbeiterin Sabine Ehm ergänzt: „Alle Mitarbeiter sind hypersensibel, sehr achtsam.“ Die Werkstatt sei für viele Familie. In den langen Monaten der Pandemie mit ihren Schutzmaßnahmen - vom Spuckschutz am Arbeitsplatz bis zu Linien auf den Böden – seien die Leute aber empfindlicher geworden. „Sie fühlen sich schneller auf den Schlips getreten“, so Silke Kniest.

Ein unkompliziertes Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen – das wünschen sich unsere Gesprächspartnerinnen (Symbolbild).
Ein unkompliziertes Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen – das wünschen sich unsere Gesprächspartnerinnen (Symbolbild). © WP | Hendrik Schulz

Für sie alle ist die Möglichkeit zu arbeiten sehr wichtig. Die 52-Jährige, gelernte Rechtsanwaltsfachangestellte, würde gerne auf den ersten Arbeitsmarkt zurückkehren. Einfach ist das nicht.

Betroffene: Noch viel Aufklärungsarbeit ist nötig

Obwohl sich in den letzten 30 Jahren viel getan habe im Umgang mit Menschen mit Einschränkungen, die Akzeptanz größer geworden sei, sei noch viel Aufklärungsarbeit nötig. Silke Kniest verdeutlicht das an einem Beispiel: „Wenn ich erzähle, dass ich in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung arbeite, wird oft gesagt: Bestimmt ist das ein schwerer Job, mit Behinderten zu arbeiten. Dann sage ich: Ich stehe auf der anderen Seite der Schranke.“ Man müsse ihr das ja nicht ansehen, „aber man könnte es in Betracht ziehen“.

Es müsse ein grundsätzliches Umdenken stattfinden. Das Ziel: Ein echtes Miteinander von Betroffenen und Nicht-Betroffenen. Es sei gut, dass die Werkstatt einen geschützten Rahmen bietet. „Aber eigentlich müsste die Welt so sein“, betont Sabine Ehm. Auf dass sich die Gesellschaft öffne für jeden Mann und jede Frau, so dass jeder in ihr ganz einfach seinen Platz finden kann.

Berater aus Bottrop forderte differenzierte Lösungsmöglichkeiten

Berater der EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) in Bottrop: Mike Herrmann.
Berater der EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) in Bottrop: Mike Herrmann. © EUTB

Initiiert wurden die Gespräche zum Protesttag von der EUTB (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung). Berater Mike Herrmann weiß selbst aus vielen Gesprächen: „Betroffene vereinsamen in der Corona-Krise zum Teil, sehen keinen Sinn mehr im Leben. Sie brauchen eine Lobby und Unterstützung, die sie alleine nicht haben. Wir als EUTB wollen uns da gerne einbringen.“ Es müsse differenziertere Lösungsmöglichkeiten in der Corona-Pandemie gerade für Menschen mit Behinderungen geben, sagt Herrmann mit Blick auf die von den Frauen geschilderten Erlebnisse.

Die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) Bottrop sitzt unter dem Dach des Paritätischen im Haus der Vielfalt an der Gerichtsstraße 3. Kontakt: 02041 77 30 600/77 30 601.

Mittel- bis langfristige Begleitung in allen Lebensbereich

Beraterin der EUTB in Bottrop: Sarah Krämer  
Beraterin der EUTB in Bottrop: Sarah Krämer   © EUTB

Kostenlos beraten werden dort von Mike Herrmann und Sarah Krämer Menschen mit Behinderung, von Behinderung bedrohte Menschen sowie deren Angehörige zu allen Fragen der Rehabilitation und Teilhabe. Die Beratung läuft auch in der Corona-Pandemie weiter: mit Termin oder auf Wunsch per Hausbesuch.

Mike Herrmann: „Wir bieten eine mittel- bis langfristige Begleitung in allen Lebensbereichen. Dazu gehört die sozialrechtliche Beratung, allerdings machen wir keine Rechtsberatung. Wir haben eine Lotsenfunktion, sind mit Vereinen und anderen Einrichtungen vernetzt.“ Geplant sind nun auch Gruppenangebote wie ein (zunächst digitaler) offener Stammtisch.