Bochum. . Zwei Tage vor dem Fall der Mauer hatte Ursula Pinski genug von ihrer alten Heimat, die ihr längst fremd geworden war. Mit 40 Jahren flieht die Magdeburgerin in einer Nacht- und Nebel-Aktion aus der DDR. Im Ruhrgebiet ist sie angekommen. „Bochum“, sagt die 65-Jährige, „bedeutet für mich alles.“
Die Angst, sagt Ursula Pinski heute, ist immer da gewesen. Die 65-Jährige erzählt es noch immer mit einem leichten Schaudern, auch 25 Jahre, nachdem sie aus der DDR geflohen ist, aus dem Staat, dessen Wesen sich stets als unrechtmäßig betrachtet hat: „Ich habe mich wie unter einer Käseglocke gefühlt“, erzählt die Bochumerin, „aber das ist mir erst hinterher bewusst geworden.“ Am 7. November 1989, da steht die Mauer noch, machen Pinski und ihr damaliger Freund Nägel mit Köpfen, sie brechen auf zur Flucht aus diesem Land, das aus ihnen gefühlte Heimatlose gemacht hat.
Die Flucht
„Es war eine Nacht- und Nebelaktion“ blickt Pinski ein Vierteljahrhundert später zurück. Am Vortag der Flucht hat das Paar noch Für und Wider abgewägt, am 7. November gibt es kein Zurück mehr. Vier Uhr morgens ist es da in Magdeburg, wo die in Solpke in der Altmark Geborene den Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht hat. Sie hat sich bei ihrem Arbeitgeber krank gemeldet und an diesem Tag geht es ihr auch wirklich schlecht, Migräneschübe plagen sie „und ich habe nur geweint“, erzählt sie. „Nimm deine Zeugnisse mit“, sagt ihr Freund noch.
Die Straßenkarte Deutschland Ost und West von 1989 packen sie noch ein, damit sie wissen, wo sich hinmüssen. Bevor sie die Grenze zur damaligen Tschechoslowakei passieren, tauschen sie auf ostdeutscher Seite noch schnell Geld um, um schließlich als vermeintliche Touristen in die CSSR einzureisen. Die Grenzer schöpfen keinen Verdacht.
Die Grenze
Die Tschechoslowakei ist nur Transit-Station auf den Weg in die BRD. Vor der Grenze nach Westdeutschland haben sich längst lange Schlangen gebildet. Trabbis und Wartburgs so weit das Auge reicht. „Die Leute wollten alle weg“, erzählt Pinski, „doch das waren alles junge Menschen so um die 20 - ich war 40 und bin gedanklich ganz anders an die Sache herangegangen.“ In Westdeutschland warten sie nicht auf Dich, denkt sich die Flüchtende. Und dann gibt es hinter der Grenze warmen Tee von den Westdeutschen, die die Menschen aus dem ostdeutschen Bruderstaat in Bayern in Empfang nehmen.
Die Vergangenheit
Für Pinski und ihren Freund geht es jetzt in Richtung Hof und Bayreuth. Langsam gibt ihr Wartburg den Geist auf. In einer Kaserne des Bundesgrenzschutzes kommen sie am späten Abend unter. Für Pinski heißt das: saubere Bettwäsche, eine Dusche und ein Dach über dem Kopf. In der DDR hat die damals 40-Jährige ihren Hausstand zurückgelassen, ihre Freunde und ihre Tochter mit dem kleinen Enkelkind, „alles“. Jetzt plagen sie erneut Sorgen: „Die Angst vor der Zukunft war so groß.“
Die neue Heimat
Es gibt 100 Mark Begrüßungsgeld und die Flüchtlinge können einen Wunsch äußern, wohin sie in der BRD sie möchten. Pinski und ihr Freund entscheiden sich für Nordrhein-Westfalen. Der Freund könnte an der Regatta-Bahn in Duisburg-Wedau als Trainer arbeiten, so hoffen sie.
Über das Zentrallager in Unna-Massen geht es für das Paar nach Bochum. Dort hat die Bereitschaftspolizei eine Turnhalle für die Flüchtlinge am Gernsteinring präpariert. „Wenn Ihr in die Stadt geht, dann macht das sonntags, wenn die Geschäfte zu sind“, raten die Beamten. Pinski macht das nicht und erlebt bei ihrem ersten Spaziergang durch die City eine „totale Reizüberflutung“, wie sie erzählt.
Die Dankbarkeit
Rund sechs Wochen leben die früheren Ostdeutschen in der Turnhalle, die inzwischen abgerissen worden ist. Überwältigt von Dankbarkeit für den Einsatz der Bereitschaftspolizisten, die sich um sie und die anderen kümmern, sagt Pinski: „Dieses Engagement, das war einfach unglaublich, was die gemacht haben.“
Anfang 1990 folgt dann die erste eigene Wohnung in der Stadt - und die Gewissheit, angekommen zu sein. „Bochum“, sagt Pinski, die heute in Linden lebt, „bedeutet für mich einfach alles.“ Hart ist das erste Jahr in der neuen Heimat gewesen - geprägt auch von Erwerbslosigkeit, so ganz entgegen ihrer bisherigen Vita: „Ich habe eigentlich immer gearbeitet.“ Schließlich fasst sie als Finanzberaterin Fuß. Mittlerweile ist Pinski im Ruhestand.
Die Partei
In der DDR hat die Magdeburgerin selbst bei der Polizei gearbeitet. Dabei habe sie sich jahrelang Schikanen ausgesetzt gesehen, weil sie sich weigerte, in die SED einzutreten. Ständigem Druck gibt sie nicht nach: Als Vorgesetzte ihr die Parteimitgliedschaft nahelegen, entgegnet sie: „Die Stasi konnte mich nicht zwingen und Ihr auch nicht.“ Zwei Tage später sei sie dann versetzt worden. Sie kündigt bei der Polizei, wird ehrenhaft entlassen und arbeitet bis zur Flucht in einer Aus- und Weiterbildungsstätte. Was bleibt, ist die Angst vor Repressalien. Schon bei der Polizei habe sie erlebt, „wie Ausreisewillige schikaniert worden sind“.
Selbst gegenüber ihrer Tochter hat Pinski über die Flucht-Pläne im Vorfeld kein Wort verloren. Die und die inzwischen zwei Enkelinnen hat die 65-Jährige Jahre später nach Bochum nachgeholt. Als sie sich nach der Flucht erstmals wieder sprachen, sagt die Tochter: „Alles hätte ich gedacht, aber nicht, dass du abhaust.“ „Ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen“, entgegnet die Mutter.
Die Demokratie
Vor einigen Tagen ist Ursula Pinski in das Erstaufnahmelager für Flüchtlinge aus Krisengebieten in der ehemaligen Förderschule an der Lewacker Straße gegangen, das fast bei ihr um die Ecke in Linden steht. Kleine Sachspenden habe sie vorbeibringen wollen, erzählt die 65-Jährige. Doch vor Ort kapituliert sie vor dem Leid der Flüchtlinge, bricht in Tränen aus und kehrt heim.
„Der Tag war für mich gelaufen“, erzählt sie und wird noch immer nachdenklich: „Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben.“ Pinski hat in Magdeburg die immer lauter werdenden Proteste gegen das DDR-Regime miterlebt. „Die Menschen wurden mutig“, sagt sie. Dass kurz darauf die Mauer für immer viel, hätte sich Pinski trotzdem nicht vorstellen können. Es war zwei Tage nach ihrer Flucht. Sie wollte darauf nicht mehr warten.