Bochum. . Ein zehnjähriger, autistischer Junge aus Wattenscheid verschwand am Donnerstnachmittag nach einer Theatervorstellung. 16 Stunden später wurde er schwer verletzt auf der Bahnstrecke unweit des Bochumer Hauptbahnhofs gefunden. Er starb wenig später. Polizei sieht Todesursache nun geklärt.
Ein seit Donnerstagnachmittag gesuchter zehnjähriger Junge aus Wattenscheid ist tot. Polizeibeamte fanden ihn am Freitagmorgen gegen 8.35 Uhr auf der Bahnstrecke am Lohring unweit des Hauptbahnhofs 16 Stunden nach seinem Verschwinden. Trotz notärztlicher Wiederbelebung starb der Junge wenig später im Krankenhaus. Nach Auskunft der Bundespolizei wies er Kopfverletzungen auf. Noch am Freitag wurde der Körper obduziert.
Laut Polizei ist auszuschließen, dass der Junge Opfer von Gewalt wurde. Die Verletzungen deuten vielmehr daraufhin, dass er von einem langsam fahrenden Zug zusammen angefahren wurde oder auf ihn prallte. "Multiple Brüche" seien an dem Körper des Kindes festgestellt worden, hieß es am Samstag in der Leitstelle der Bochumer Polizei. Nach Auskunft der Bundespolizei werden alle Züge, die zum in Frage kommenden Zeitpunkt den Fundort passierten, auf Spuren untersucht.
Junge muss etwa 1000 Meter gelaufen sein
Wann das Kind so schwer verletzt wurde, lässt sich laut Polizei nicht mehr genau feststellen. Die obduzierenden Ärzte vermuten den Todeszeitpunkt am späten Donnerstagabend. Der Weg zwischen dem Ort des Verschwindens und der Stelle, an der der Junge schwer verletzt gefunden wurde, betrage etwa einen Kilometer, teilte die Polizei mit.
Die Umstände, unter denen der autistische Junge auf das Bahngelände kam, sind weiterhin noch ungeklärt. Er hatte am Donnerstagnachmittag eine Theatervorstellung der Aral-Laienspielschar im nahe gelegenen Alice-Salomon-Berufskolleg an der Akademiestraße besucht. Aufgeführt wurde das Stück „Rumpelstilzchen“ der Brüder Grimm.
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Gegen Ende der Vorstellung sei plötzlich eine große Unruhe entstanden, so der stellvertretende Schulleiter Werner Schiller. Ein Junge, der mit seiner Mutter in dem vorweihnachtlichen Märchenspiel war, wurde gesucht. „Wir haben dann mit dem Hausmeister und einigen Reinigungskräften das komplette Schulgebäude abgesucht. Vergeblich.“
Düsterer Donnerstag
Der Donnerstagnachmittag war besonders düster gewesen. Der Wind, Ausläufer des Sturms „Xaver“, peitschte über die Stadt und machte das Gelände des Kortumparks, der sich unmittelbar hinter dem Schulgebäude und der Aral/BP-Verwaltung erstreckt, besonders unwirtlich. Unter normalen Umständen würde sich in dieser Dämmerung, bei diesem Sturm niemand zwischen die gefährlich schwankenden alten Bäume des ehemaligen Friedhofs wagen. Doch offenbar wählte der Junge genau diesen Weg.
Nach Auskunft der Polizei hatten die Suchmaßnahmen unmittelbar nach dem Verschwinden des Jungen begonnen, der sich beim Verlassen des Schulgebäudes gegen 16.10 Uhr entfernt habe und der die geistige Entwicklung eines Dreijährigen gehabt habe. Das Gebäude, angrenzende Grünflächen und Straßen seien abgesucht worden. Zum Einsatz kamen dabei auch zwei Spürhunde und ein Hubschrauber. Bis zu den Morgenstunden waren die Kräfte im Einsatz, ehe der Junge auf der Bahnstrecke gefunden wurde.
"Weglauftendenzen sind bei Autisten häufig"
Noch ist unklar, wie und warum sich der zehnjährige Junge am Donnerstag von seiner Mutter trennte. „Weglauf-Tendenzen sind bei Autisten aber häufig“, weiß Melanie Bornscheuer, die als Leiterin des Fachdienstes Autismus bei der Familien- und Krankenpflege in Bochum 76 autistische Patienten betreut.
Von der angeborenen Entwicklungsstörung ist nach aktuellen Studien jeder 400. Mensch betroffen. Die Betroffenen haben oft verblüffende Begabungen (Zeichnen, Rechnen, Musik), zugleich aber erhebliche Einschränkungen in ihrem Sozialverhalten und der Kommunikation. Viele Autisten kapseln sich von ihrer Umgebung ab, leben in ihrer eigenen Welt.
Unkalkulierbares Verhalten
„Äußere Reize sind dabei besonders wichtig“, schildert Melanie Bornscheuer. Eine rote Blume am Wegesrand zum Beispiel könne dazu führen, dass Autisten dem Reiz unverzüglich folgen. Ihr Verhalten sei für das Umfeld, auch für engste Familienangehörige, „unkalkulierbar, schlicht nicht vorhersehbar“, berichtet die Expertin, die Autisten ab dem Kindesalter begleitet.
Den Autismus zu heilen ist nicht möglich: Die Störung begleitet die Menschen ihr Leben lang. Allerdings ist ein Autist nicht als krank anzusehen, sondern als Mensch, der die Welt mehr oder weniger anders wahrnimmt und erlebt. Viele autistische Menschen können durchaus ein zufriedenes Leben führen. (mit dae/WE)