Bochum. Sie sitzen im Sessel, liegen im Flur oder in ihrem Bett - und sie sind tot. Immer häufiger haben Feuerwehr und Polizei in Bochum mit gestorbenen Menschen zu tun, deren Tod lange Zeit unbemerkt blieb. Oft werden Nachbarn erst aufmerksam, wenn der Briefkasten überquillt.

Thomas Cremer (51) hat schon viel Elend gesehen. Seit 30 Jahren fährt der Feuerwehrmann Rettungseinsätze. Aber die Fälle, in denen er hinter verschlossenen Türen verweste Leichen vorfindet, sind für ihn „das Schlimmste, das bedrückt mich“.

So etwas würde ihn „fertig“ machen. Und die Anzahl solcher traurigen Funde wird immer größer. „Das hat auf jeden Fall zugenommen“, sagte er der WAZ. Er erklärt dies mit einer wachsenden Anonymisierung in den Nachbarschaften, mit Gleichgültigkeit. „Jeder interessiert sich nur für sich selber, nicht mehr für den Nachbarn“, sagt er über Teile der Gesellschaft.

„Mindestens einmal die Woche“ müsse der Rettungsdienst in eine Wohnung, in der schon länger eine Leiche liege. Einige Bewohner seien „ein paar Tage, andere ein paar Wochen tot“. Erst am vergangenen Wochenende erlebte er so ein Schicksal: Ein alleinstehender älterer Mann lag rund zehn Tage dort - und niemand hatte es bemerkt.

„Hilflose Person hinter verschlossener Wohnungstür“ - so lautet der Einsatz in solchen Fällen. 503 Mal mussten Cremer und seine Kollegen deshalb im vergangenen Jahr in Bochum ausrücken. Hinweisgeber sind oft Nachbarn, denen einen überquellender Briefkasten auffällt, die einen bedrohlichen Knall gehört oder denkwürdige Gerüche wahrgenommen haben. Die Feuerwehr öffnet die Türen dann, im Zweifel gewaltsam, und findet oft Menschen, die akut gestürzt sind, die einen Herzinfarkt erlitten haben – oder die tot im Bett, auf dem Sofa oder auf dem Boden liegen. „Oder sie sitzen tot im Sessel“, wie Cremer sagt. Überwiegend sind es natürlich ältere Menschen. Und männliche, wie der Rettungsassistent meint.

Polizei muss die Todesursache klären

So nachhaltig wie die Bilder der Verwesung ist auch der Geruch. „Ein ganz ekelhafter penetranter Geruch, der so intensiv ist, dass eigentlich jeder Nachbar ihn riechen müsste“, wie Cremer sagt. „Süßlich, schwer zu beschreiben.“ Die Rettungskräfte duschen nach so einem Einsatz und wechseln die Kleidung. Wenn sie nicht sofort zu einem neuen Einsatz eilen müssen.

Der Rettungsdienst fährt zu solchen Notfällen stets mit einem Notarzt. Dieser kann aber meist nur den Tod feststellen, nicht die Todesursache. Deshalb wird die Polizei hinzugerufen. Stichwort: „Unklare Todesursache.“ Ist eine Leiche „fäulnisverändert“, wie es in der Fachsprache heißt, wird sie auch obduziert, um ein Verbrechen auszuschließen - oder zu erkennen. Weit über 1000 Todesermittlungen gibt es im Polizeibezirk Bochum pro Jahr. In etwa jedem fünften Fall wird die Leiche obduziert.

Auch der 1. Kriminalhauptkommissar Hans-Willi Schäfer, Bochums oberster Polizeiermittler bei Todesfällen, sagt, dass solche späten Leichenfunde „zunehmend häufiger“ vorkommen. Dass sie bereits „einige Wochen“ tot zu Hause lägen, käme im Polizeibezirk Bochum geschätzt zweimal im Monat vor.

Er kennt aber auch Fälle von mehreren Monaten und „übelst zugerichteten Leichen“. Verstorbene, die mit Maden befallen seien, würden „relativ häufig“ gefunden, zumal in warmen Jahreszeiten.

Desinteresse der Nachbarn

Dass auf natürliche Weise verstorbene Menschen so lange unentdeckt bleiben, erklärt Schäfer damit, dass „die soziale Kontrolle“ in der Nachbarschaft zunehmend schlechter würde. Die Gleichgültigkeit wachse. Von „Desinteresse“ und Kontaktlosigkeit spricht auch Cremer. Das sei früher anders gewesen.

Der Lebensretter sieht auf seinen Fahrten auch Verwahrlosung, in allen gesellschaftlichen Kreisen. Stunden, bevor er am vorigen Wochenende eine zehn Tage liegende Leiche vorfand, kam er zu einem alleinstehenden, am Knie verletzten Senior. Er lebte, war aber „völlig verwahrlost“. Ein Nachbar habe wohl wegen des Geruchs den Notruf gewählt. „Beide Beine waren von Maden befallen.“ Und ein Geruch, „ähnlich wie bei Toten“. In einer anderen Wohnung fand er einmal einen Mann mit Zentimeter langen Fuß- und Fingernägeln, „gedreht wie ein Korkenzieher“.