Bochum. Die Notaufnahmen der Kliniken sind überlastet, so heißt es. Wir waren vor Ort und haben Zahlen, wie viele Patienten tatsächlich ohne Not kommen.

Bei der Episode mit dem kleinen Finger muss Adrian Kolodziej schmunzeln. „Der Mann hatte sich an einem Blatt Papier geschnitten. Der Riss in der Haut war minimal. Zu uns kam er trotzdem. Die Wunde, meinte er, könnte sich ja entzünden“, erzählt der Pflegedienstleiter. Auch dieser Patient sei verarztet worden, so wie alle. Er habe allerdings sehr lange warten müssen. Denn Lappalien wie diese sind in der Zentralen Notaufnahme im St.-Josef-Hospital zwar Alltag, aber doch die Ausnahme.

Notaufnahmen: Im St.-Josef-Hospital ist die Hausarztpraxis gleich nebenan

Bundesweit klagen Krankenhäuser, dass ihre Notambulanzen überlastet seien. Von einer „Fehlinanspruchname“ ist die Rede. Immer häufiger seien es harmlose Beschwerden oder Verletzungen, mit denen Patientinnen und Patienten die Klinik-Ärzte aufsuchten – und damit die Behandlung echter Notfälle einschränkten.

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Stimmt das? Die WAZ machte die Probe aufs Exempel: an einem ganz normalen Arbeitstag (welcher, soll wegen des Datenschutzes nicht genannt werden) im St.-Josef-Hospital, während der Öffnungszeit der Notfallpraxis der niedergelassenen Hausärzte gleich nebenan im Josef-Carrée. Halten sich die Patienten an die Maßgabe der Kassenärztlichen Vereinigung? Die lautet unmissverständlich: „Der hausärztliche Notdienst ist zuständig für alle Beschwerden, mit denen man zum Hausarzt gehen würde.“ Die Notaufnahme des St.-Josef-Hospitals hingegen ist bestimmt für Patienten „in einer absoluten Ausnahmesituation, bei einem Unfall, einer akuten Erkrankung oder einem bedrohlichen Symptom“.

Die stellvertretende ärztliche Leiterin Dr. Yasmin Uhlenbruch (re.) und Adrian Kolodzeij (2.v.re.) von der Pflegerischen Leitung der Zentralen Notaufnahme mit dem Team der KKB-Ambulanz am St.-Josef-Hospital.
Die stellvertretende ärztliche Leiterin Dr. Yasmin Uhlenbruch (re.) und Adrian Kolodzeij (2.v.re.) von der Pflegerischen Leitung der Zentralen Notaufnahme mit dem Team der KKB-Ambulanz am St.-Josef-Hospital. © FUNKE Foto Services | Uwe Möller

Täglich werden 120 Patienten in der Notambulanz versorgt

Es ist Nachmittag. Bei den Hausärzten im Carrée steht oder sitzt niemand vor der Tür. Der Warteraum der Klinik-Notambulanz im Haus L ist mit gut einem Dutzend Patienten gefüllt. Eine junge Frau klagt über Blutungen. „Womöglich eine Zyste“, sagt sie am Telefon. Ein älterer Mann keucht schwer. „Atemnot, COPD.“ Ein kleines Mädchen wimmert auf dem Arm seines Vaters. Sturz im Bällebad. Verdacht auf Schienbeinbruch. Eine Seniorin wird vom Notarzt auf einer Trage behutsam Richtung Behandlungsraum gerollt. Sturz im Altenheim. Diagnose noch ungewiss.

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„Normaler Betrieb, eher ruhig“, konstatiert Dr. Yasmin Uhlenbruch, stellvertretende ärztliche Leiterin der Notaufnahme. Mehr als 60 Behandlungen haben sie und ihr Team seit Schichtbeginn am Morgen hinter sich. Rund 120 seien es im Schnitt täglich. 37.000 waren es im Jahr 2022 insgesamt. Herzinfarkte, Schlaganfälle, Blutvergiftungen, Lungenentzündungen, Sport- und Schulunfälle: das ganze schreckliche Programm. Der bislang außergewöhnlichste Fall des Tages: Ein Mann, mutmaßlich psychisch erkrankt, hat sein Handy-Display zertrümmert und drei Scherben verschluckt. Sie müssen per Spiegelung aus dem Magen gefischt werden.

Krankenhaus zieht 24-Stunden-Bilanz: 32 Patienten „nicht dringend“

Wer in die Ambulanz kommt oder gebracht wird, wird nach einer ersten Sichtung durch einen Arzt farblich eingeordnet. „Manchester-Triage“ heißt das standardisierte Verfahren. Rot und orange bedeuten: Es geht um Leben und Tod. Gelb heißt „dringend“, grün „normal“, blau „nicht dringend“. Es gilt: Je weniger bedrohlich die Erkrankung und je höher das Patientenaufkommen, desto länger die Wartezeit. Die kann mitunter zwei bis drei Stunden betragen.

Die ärztlichen Notdienste in Bochum

Hausärztliche Notfallpraxis: Josef-Carrée, Gudrunstraße, montags, dienstags und donnerstags von 18 bis 22 Uhr, mittwochs und freitags von 13 bis 20 Uhr sowie samstags und sonntags von 8 bis 22 Uhr.

Kinderärztlicher Notdienst: Kinderklinik, Alexandrinenstraße, montags, dienstags und donnerstags 19 bis 21 Uhr, mittwochs und freitags von 16 bis 21 Uhr, samstags und sonntags von 9 bis 21 Uhr.

HNO-Notdienst: St.-Elisabeth-Hospital, Bleichstraße, freitags von 15.30 bis 17.30 Uhr sowie samstags und sonntags von 9.30 bis 12.30 Uhr und 15.30 bis 17.30 Uhr.

Augenärztlicher Notdienst: Knappschaftskrankenhaus, In der Schornau, mittwochs und freitags von 15.30 bis 19.30 Uhr, samstags und sonntags von 9.30 bis 14.00 Uhr und 15.30 bis 20 Uhr.

Infos: Telefon 116 117 und bochum.de/Hilfe-im-Notfall

Am Tag nach dem WAZ-Besuch zieht Yasmin Uhlenbruch eine 24-Stunden-Bilanz. Stichwort: „Fehlinanspruchname“. 128 Patienten kamen in die Notaufnahme. Zwei fielen in die Kategorie Rot, sechs in Orange. Sie wurden stationär aufgenommen, u.a. mit Schlaganfall, Hirnblutung und Herzinfarkt. 25 Patienten wurden mit „Gelb“, 63 mit „Grün“ und 32 mit „Blau“ kategorisiert.

Die Hausärztliche Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung ist im Josef-Carrée untergebracht – unweit der Notaufnahme für schwere und lebensbedrohliche Fälle.
Die Hausärztliche Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung ist im Josef-Carrée untergebracht – unweit der Notaufnahme für schwere und lebensbedrohliche Fälle. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

20-Euro-Gebühr findet in Kliniken keine Freunde

Jeder vierte Patient hatte keinen dringenden Behandlungsbedarf. Rechtfertigt das eine in der Politik derzeit angedachte Reform der Notfallversorgung mit telefonischer Sammel-Leitstelle und „Integrierten Notfallzentren“? Im Katholischen Klinikum Bochum (KKB) hegt man Zweifel. Die bestehende Struktur mit den klinikeigenen Notaufnahmen und den ärztlichen Notdienstpraxen (siehe Info-Kasten) habe sich bewährt, erklärt Sprecher Jürgen Frech. Auch eine von der CDU ins Spiel gebrachte Gebühr von 20 Euro für Patienten, die ohne vorherige telefonische Ersteinschätzung in die Notaufnahme kommen, sieht man im KKB kritisch.

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Früher Abend. Der Warteraum hat sich geleert. Ein Junge in Sportklamotten kauert mit einem Eisbeutel auf dem froschgrünen Plastikstuhl. „Sportverletzung.“ Eine Frau im Rollstuhl flüstert mit fiebrigen Augen zu ihrem Begleiter: „Hoffentlich dauert’s nicht so lange.“

„Die mit den harmlosesten Symptomen sind beim Warten meistens die Lautesten“, hatte Pflege-Chef Adrian Kolodziej am Nachmittag gesagt. Heute sind alle diszipliniert. Auch die „Blauen“.

Im Bochumer Bergmannsheil werden monatlich mehr als 2000 Patienten in der Notaufnahme versorgt.
Im Bochumer Bergmannsheil werden monatlich mehr als 2000 Patienten in der Notaufnahme versorgt. © FUNKE Foto Services | Julia Tillmann

Notfallaufnahmen: Das ist die Lage in den weiteren Kliniken in Bochum

Neben dem Katholischen Klinikum Bochum betreiben auch die drei weiteren Bochumer Krankenhäuser Notfallaufnahmen. Die WAZ hat gefragt: In welchem Maße werden die Ambulanzen auch für weniger kritische Behandlungen aufgesucht?

Im Bergmannsheil werden monatlich rund 2100 Patienten versorgt. Täglich gebe es Fälle, „die nicht primär in einer Notaufnahme behandelt werden müssten“, etwa kleinere Verletzungen, Erkältungskrankheiten oder Rückenschmerzen, berichtet Sprecher Robin Jopp. Alles werde „in der Reihenfolge der Dringlichkeit“ abgeklärt. „Wir würden es begrüßen, wenn Patienten mit der Frage und Entscheidung, welche Notfallstufe für sie die richtige ist, nicht alleine gelassen würden. Insofern unterstützen wir Vorschläge zu gemeinsamen Leitstellen und zentralen Notfallnummern“, so das Bergmannsheil. Eine zielgenauere Steuerung müsse Vorrang vor Gebühren haben.

In der Augusta-Notaufnahme werden monatlich rund 1400 Behandlungen vorgenommen. Auf 20 bis 30 Prozent schätzt Sprecherin Jennifer Krämer den Anteil der Patienten, die keine Notfälle sind. Beispiele: milde Harnwegsinfekte oder Erkältungssymptome. Alle erhielten binnen zehn Minuten eine Ersteinschätzung. „Wenn der Arzt jedoch feststellt, dass keine Notfallbehandlung erforderlich ist, werden Patienten gegebenenfalls auch zum Hausarzt weitergeleitet.“ Integrierte Notfallzentren werden im Augusta begrüßt. Eine Gebühr nicht.

Das Knappschaftskrankenhaus zählt monatlich 1450 bis 1950 Patienten in der Notaufnahme. „Wir beobachten eine steigende Tendenz von Patienten, die mit Erkrankungen zu uns kommen, deren Behandlung durch den Hausarzt oder einen niedergelassenen Facharzt erfolgen sollte“, sagt Sprecherin Bianca Braunschweig. Jeder und jede werde aber ernstgenommen und unverzüglich eingeschätzt. Die Grundidee der Integrierten Notfallzentren sei nicht schlecht, jedoch seien noch viele Fragen offen. Die Einführung einer Gebühr hingegen sei „der falsche Weg“.