Bochum. In den Kammerspielen Bochum hatte die mit Laien besetzte Performance „All the Sex I’ve ever had“ Premiere. Richtig prickelnd war der Abend nicht.
In den Kammerspielen Bochum hatte die im Lockdown mehrmals verschobene Performance „All the Sex I’ve ever had“ („Der ganze Sex, den ich je hatte“) der kanadischen Theatergruppe Mammalian Diving Reflex Premiere. Das kleine Haus war „ausverkauft“, was in Corona-Zeiten heißt, dass rund 70 von 400 Plätzen besetzt werden konnten.
Sechs Seniorinnen und Senioren sprechen über Sex
Bei dem Abend schildern sechs Seniorinnen und Senioren der Jahrgänge 1945 bis 1955 aus Bochum und dem Umland ihre Geschichten: von der ersten Verliebtheit über Herzschmerz, (un)geplante Schwangerschaften, Affären, sexuelle Reorientierungen bis hin zum Tod von Geliebten. „Dabei entsteht ein ergreifendes Gesellschaftspanorama ihrer Zeit“, hieß es in der Vorankündigung. Wirklich?
Eine endlose Reihung von Erinnerungsfetzen
Es entstand vor allem eine Aufführung, welche die an Sex geknüpften Lebenserinnerungen der alten weißen Frauen und Männer in Form einer scheinbar endlosen Reihung von Erinnerungsfetzen zu bündeln versuchte, aber dabei abgesehen von einer Konfettikanonade und etwas waberndem Nebel wenig Theaterwirkung entfaltete. Vielmehr konnten einem die Protagonisten, die starr wie in einer Pressekonferenz vor Mikrofonen auf einem Podium saßen, wie Teilnehmer einer Encountergruppe vorkommen, die endlich einmal das aussprechen durften, was seit Jahrzehnten auf der Seele brennt. Allerdings eben nicht in einem geschützten Raum, sondern vor den Ohren einer neugierigen Öffentlichkeit.
Prüde 50er Jahre werden in Erinnerung gerufen
So erfuhr man also zum Beispiel, dass die 50er Jahre ziemlich prüde waren, dass es trotzdem aber auch damals schon Gruppen-Onanieren auf dem Schulklo gab, dass man in den Sixties Sex im Citroën 2CV haben konnte, sogar im Urlaub und draußen Liebe machte, dass man sich auch mit 56 mit einem jüngeren Lover „durch alle Zimmer des Hauses vögeln“ kann und dass ein schwules Coming-Out mit Mitte 60 nicht nur möglich, sondern sinn- und lebenserfüllend ist. Die Schlaglichter auf den sexuellen Lebenskreis werden mit persönlichen Schicksalsschlägen verwoben, man erfährt, dass der Bruder eines Protagonisten an Aids starb, dass die Kinder eines anderen an Mukoviszidose erkrankten.
„Wer hatte schon mal Sex an ungewöhnlichen Orten?“
Die Frage, die man sich als Theatergänger stellen muss, ist nicht: Will ich das überhaupt wissen? (Ja, denn es sind reale Lebensgeschichten von Menschen, und daher per se interessant), sondern: Will ich das so vermittelt bekommen?
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Die von Regisseurin Jana Eiting arrangierte Anhäufung von Erinnerungskrümeln führt beim Publikum nicht zu mehr Einsicht, und die bemühte Direktansprache im plötzlich hell erleuchteten Saal - „Wer hatte auch schon mal Sex an ungewöhnlichen Orten?“ - schon gar nicht. Die sich in über einem halben Jahrhundert radikal verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen privater und öffentlicher Sex sich abspielt, und die Konventionen, denen er folgt, erschließen sich, wenn überhaupt, nur als Subtext.
Eine radikale Offenheit und Verletzlichkeit tritt zutage
So bleibt es bei einer mehr oder weniger beliebigen Aneinanderreihung von Erfahrungen, die Andere möglicherweise auch gemacht haben (oder auch nicht), nur, dass diese sie niemals aussprachen. Das war’s dann aber auch.
Die radikale Offenheit und Verletzlichkeit, die die Menschen auf dem Podium zulassen, sind aller Ehre wert; schließlich ist das Sprechen über Hochprivates wie sexuelles Erleben und Empfinden selbst heute, in Zeiten von Libertinage und YouPorn, oft mit Scham besetzt. Gleichwohl: Diese gruppendynamische „All the Sex…“-Sitzung wäre in jedem Selbstfindungs-Wochenendseminar besser aufgehoben gewesen als auf einer Theaterbühne.
Info & Tickets: www.schauspielhausbochum.de