Bochum. Corona stoppte jäh den Höhenflug, zu dem das Schauspielhauses Bochum angesetzt hatte. Ein tragischer Niedergang, wie in einem Shakespeare-Drama.
Das Jahr 2020 wird als eine Art Shakespeare’scher Tragödie in die Annalen des Schauspielhauses Bochum eingehen - Aufstieg und Fall, Regression und Neuanfang. Schicksalhafte Beteiligte: ein Wasserrohrbruch und das Covid-19-Virus.
Die dritte Spielzeit von Johan Simons, die im Herbst 2020 begann, hätte ganz groß werden und den Durchbruch für das internationale Ensemble und die aufklärerisch-ausgeklügelte Theaterauffassung des Niederländers bringen sollen. Doch nichts da! Das als sausende Rakete gestartete Bochumer Theater liegt wie eine flügellahme Ente am Boden. Dies ohne eigene Schuld, vielmehr beinahe schicksalhaft. Shakespeare lässt grüßen.
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Wasserschaden legte das Theater über Weihnachten still
Das „Elend“ fing schon vorm Jahreswechsel an, als von Corona noch kaum die Rede war. Ein Wasserschaden im Keller legte die Spielstätte über Wochen still; der größte anzunehmende Unfall, denn zumal der Dezember mit den Weihnachtsaufführungen für Familien und die geballte Kraft der Aufführungstage „zwischen den Jahren“ ist für jedes Theater extrem wichtig. Auch zum Jahreswechsel 2019/20 blieben alle Lichter aus. Schlimm war das!
Als man sich eben aufgerappelt und den durcheinander geratenen Spielplan wieder in Form gebracht hatte, schlug das Virus zu. Der harte Lockdown im März/April legte das Theater komplett still; die Nachwehen sind bis heute spürbar.
Denn eigentlich sollte die im Herbst 2020 angelaufene 3. Spielzeit zum ganz großen Ereignis werden. Generell gilt an Theatern die mittlere, dritte Saison als entscheidend. Warum? Sie zeigt, wo der Hase langläuft, und ob das Theater wirklich zu seinem Publikum durchdringt. Und ob es von ihm angenommen wird.
Zwei Saisons zum „Ausprobieren“
Meist werden Intendantenverträge auf fünf Jahre geschlossen, wobei wegen des langen konzeptionellen und personellen Vorlaufes die jeweils 1. Saison sozusagen „kalt“ im Voraus geplant werden und dann mit Nachdruck an der neuen Wirkungsstätte umgesetzt werden muss.
So geschehen in Bochum, als Simons & Team in der Debütspielzeit 2018/19 mit herausfordernden Aufführungen wie „White People’s Problems“ aufwartete, das unbekannte, internationale Ensemble noch niemand kennen konnte, und von Vielen selbst das Layout des Spielplan-Leporellos als Rätselwerk aufgefasst wurden. Und dann fiel auch noch das vorweihnachtliche Familienstück „Alle Jahre wieder“ beim Publikum krachend durch.
Sandra Hüller zweimal Weltklasse
Die 2. Saison 2019/20 ließ sich besser an, sie brachte große, überregional ausstrahlende Erfolge wie „Penthesilea“ mit Sandra Hüller und Jens Harzer (Premiere bereits im November 2018) oder „Hamlet“ (Premiere im Juni 2019), erneut mit Hüller, der „Schauspielerin des Jahres“, top besetzte. Diese von Simons’ verantworteten großen, stilsetzenden Aufführungen wurden von der Kritik und vom Publikum zunehmend geschätzt. Gleichwohl zündete der Funke vor Ort immer noch nicht richtig, es gab reichlich Abo-Kündigungen und auch weiterhin Unmutsäußerungen über die grundsätzliche Spielplanausrichtung, die als zu anspruchsvoll aufgefasst wurde.
Vorhang bleibt unten
Wegen der aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie fallen im Schauspielhaus alle Vorstellungen bis zum 30. November aus.
Kartenbesitzer werden persönlich benachrichtig. Um telefonische Wartezeiten zu vermeiden, bittet das Schauspielhaus, Anfragen nur per E-Mail an tickets@schauspielhausbochum.de zu senden.
„Wir hören zu, wir lernen täglich dazu“, hat Simons die Einwände stets kommentiert. Seinem Stil treu zu bleiben, und sich doch auch zu wandeln, das zeichnet ihn aus. In den Planungen für die laufende, 3. Saison, die dann von Corona zertrümmert wurde und wird, war und ist das ganz genau abzulesen.
An ihrem Anfang stand „Platonow“, ein strahlender Siegesbeweis für das poetische Theater. Johan Simons‘ Tschechow-Inszenierung löste nach der Premiere im Januar 2020 bei Publikum und Kritik Bewunderung aus. „Wenn man nur einen Abend hätte, um in diesem Jahr ins Theater zu gehen, dann müsste man nach Bochum fahren. Zum Iwanow, mit Jens Harzer“, schrieb die FAZ.
Warten auf „Die unendliche Geschichte“
Als Familienstück kommt (nun endlich im Dezember, wenn Corona es will!) die populäre „Unendliche Geschichte“ heraus, Simons selbst legte mit „King Lear“ (Premiere September 2019) künstlerisch nach, mit dem Musiktheaterstück „Mit anderen Augen“ von Selen Kara und Torsten Kindermann (Premiere corona-bedingt wahrscheinlich im Dezember) wurden zwei Publikumslieblinge der Weber-Ära zurückverpflichtet.
Und dann wäre da ja noch das „HERBERT“-Musical von Herbert Fritsch und Herbert Grönemeyer gewesen – eine Konzession an den Massengeschmack, wenn man so will, angedacht als theatersatte Ausmalung höchst populärer Musik. Binnen Stunden war die für März 2020 angekündigte Premiere ausverkauft. Wegen des Corona-Shutdowns fiel sie ins Wasser. Ob es das Stück jemals geben wird, steht dahin.
Ein veränderter Spielplan, überschwängliche Kritiken, mit Sandra Hüller und Jens Harzer die beiden aktuell bedeutendsten deutschsprachigen Schauspiele auf der Bochumer Bühne, die Einladung von „Hamlet“ zum Berliner Theatertreffen – erste Nominierung nach 20 Jahren – und ein „Iwanow“, der das Zeug hat, Theatergeschichte zu schreiben wie Peymanns „Hermannsschlacht“ – als dieses Jahr begann, sah es so aus, als sei für das Schauspielhaus nur der Himmel die Grenze.
Endlich wieder beim Berliner Theatertreffen
Nichts davon wurde wahr. Corona ließ es nicht zu. Der Spielplan musste extrem ausgedünnt werden, die „HERBERT“-Aufführung wurde gecancelt. Die paar Repertoire-Vorstellungen, die überhaupt noch gespielt werden konnten, fanden vor 50, 100, 150 Zuschauern statt. Ein Alptraum. Das halb ausgeräumte Große Haus zeigte grausam die Lücken, ja: die Wunden, die Corona geschlagen hat. Wie groß die Unsicherheit ist, aber wie trotzig auch der Wille aller am Schauspielhaus Beschäftigten, der Herausforderung begegnen zu wollen, war dennoch immer deutlich zu erkennen.
Fluch und Segen zugleich
Für Johan Simons ist das, was gerade geschieht, Flucht und Segen zugleich. Wie beurteilt er die neue Zeit? „Die dauernden Stimmungswechsel machen einen manchmal depressiv, Corona schlägt auch im Alltag durch. Als Mensch finde ich es schwierig, als Künstler ist es mir wichtig, dass die Kunst ihre Kraft zeigt“, hat er einmal gesagt.
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Mit Elias Canettis „Die Befristeten“ reagierte der Theatermacher darauf. Die Inszenierung, mitten in der Covid-Krise platziert, war gerade auch für das Schauspielhaus wichtig, um zu zeigen, dass die Power nach wie vor da ist. Es ist eine Aufführung, die über die Kunst in den Alltag hinausweist.
So wie Theater halt sein sollte.
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