Bochum. Das Gesundheitsamt Bochum hat in der Krise das Personal verdoppelt. Leiter Dr. Ralf Winter spricht unter anderem über die Heinsberg-Studie.

Erstmals seit Beginn der Corona-Krise äußert sich der Leiter des Bochumer Gesundheitsamtes, Dr. Ralf Winter (61) ausführlich zur aktuellen Lage in unserer Stadt. Dr. Winter gibt im Gespräch mit WAZ-Redakteur Michael Weeke auch seine ganz persönliche Einschätzung für die weitere Entwicklung der Pandemie in Bochum ab und spricht über die Zukunft mit dem Virus.

Vor der Corona-Krise stand das Gesundheitsamt selten derart im Zentrum des Interesses. Wie hat das Bochumer Gesundheitsamt reagiert? Wurden Kapazitäten aufgestockt, Arbeitsweisen geändert? Wie sieht heute der Tagesablauf aus?

Ralf Winter: Die Stadtverwaltung hat mit einer massiven Aufstockung, einer Verdoppelung der personellen Kapazitäten (siehe Infobox) für die Bekämpfung der Pandemie reagiert. Auch die Struktur innerhalb des Amtes hat sich geändert. Der große Bereich der Pandemiebekämpfung wurde nach Stabsstrukturen gegliedert. Die organisatorische Leitung obliegt einer Führungskraft der Feuerwehr, die medizinische Leitung dem Gesundheitsamt.

Maßschnur sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse

In der Krise haben auch selbsterklärte Fachleute oder Verschwörungstheoretiker Hochkonjunktur. Was ist für Sie persönlich als Arzt der Kompass, der Ihr Handeln in dieser Situation steuert?

Der Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Außerdem sollen durch die Umsetzung der infektionsvorbeugenden Maßnahmen keine „Nebenwirkungen“ auftreten, die der Gesundheit der Bürger und Bürgerinnen mehr schaden als ohne diese Maßnahmen durch eine mögliche Infektion zu befürchten wäre.

Zu Beginn der Krise wurde zunächst im Gesundheitsamt selbst eine Diagnostikstelle eingerichtet. Diese Aufnahme zeigt Dr. Ralf Winter sitzt in dem Aufnahmezimmer dieser Stelle.
Zu Beginn der Krise wurde zunächst im Gesundheitsamt selbst eine Diagnostikstelle eingerichtet. Diese Aufnahme zeigt Dr. Ralf Winter sitzt in dem Aufnahmezimmer dieser Stelle. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Sie orientieren sich in Ihrer Arbeit an den Kriterien des Robert-Koch-Institutes. In der letzten Woche nun starb ein Bewohner des Marienstiftes, der zwar mit Corona infiziert war, aber an einer anderen Ursache starb. Wie genau ist es möglich, hier zu differenzieren. Andere Länder haben mehrfach Zahlen korrigiert, weil zuvor bestimmte Personengruppen gar nicht erfasst waren?

Wir verfügen seit dem frühen Stadium der Lage über einen zentralen Datenbestand. In manchen Fällen - wie hier - kann eindeutig gesagt werden, dass ein verstorbener, Covid-19-positiv getesteter Mensch, an einer anderer Ursache verstorben ist (z.B. Verkehrsunfall). Die Ursachen können aber nicht immer so eindeutig auseinandergehalten werden. Im Zweifel wird der Fall als „coronabedingt“ gezählt.

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Jetzt liegt die umstrittene Heinsberg-Studie vor. Dort heißt es, die Dunkelziffer bei Infektionen liege um den Faktor 10 höher als die Gesamtzahl der gemeldeten Infektionen. Das würde in Bochum eine Zahl von rund 4400 Infizierten bedeuten. Halten Sie solche Rechnungen für seriös?

Ein Hochrechnen der für Heinsberg ermittelten Dunkelziffer auf Bochum ist mathematisch nicht sinnvoll. Das liegt einerseits daran, dass nur weniger als 1000 Personen mit rund 150 Infizierten überhaupt in die Studie Eingang fanden, andererseits an unterschiedlichen Verhältnissen in unterschiedlichen Regionen. Grundsätzlich gibt es sicher eine Dunkelziffer. Die Heinsberg-Studie deutet darauf hin, dass diese höher liegen könnte als bislang angenommen. Je höher die Dunkelziffer ist, umso wichtiger ist die Einhaltung der Abstandsregeln.

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„Wir sind in Bochum jetzt auf einem guten Kurs“

Sie hatten ganz zu Beginn der Krise gesagt, die Gefährlichkeit des Virus sei (nach damaligem Erkenntnisstand) geringer einzuschätzen als eine normale Grippe-Infektion. Wenn die Ergebnisse der Heinsberg-Studie tatsächlich hochzurechnen sind, liegt die Sterblichkeit nur bei 0,37 Prozent und Sie hätten Recht behalten. Könnte uns das nicht alle etwas gelassener stimmen?

Influenza und Covid-19 sind in ihren Auswirkungen auf den Menschen vergleichbar. Die Sterblichkeit an Influenza schwankt stark von Jahr zu Jahr, in diesem Jahr gab es keine starke Influenza-“Saison“. Das liegt teilweise auch daran, dass die Maßnahmen gegen Covid auch gegen Influenza wirkten. Die Besorgnis in der Bevölkerung und auch der Fachwelt begründet/e sich darin, dass in der Bevölkerung keine Immunität gegen diese neue Erkrankung vorliegt und auch nicht geimpft werden kann - mit der Folge, dass die medizinische Versorgung möglicherweise nicht mit der Ausbreitung Schritt halten kann. Glücklicherweise sind wir nun nicht nur in Bochum auf einem guten Kurs.

Aufbau und Struktur des Bochumer Gesundheitsamtes

Dr. Ralf Winter ist 61 Jahre alt und ist seit 1986 im Gesundheitsamt der Stadt Bochum beschäftigt. Im Gesundheitsamt arbeiten normalerweise rund 100 Köpfe (entspricht 84 Vollzeit-Stellen).

Beide Zahlen verdoppeln sich derzeit durch andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus anderen Bereichen der Stadtverwaltung, die zusätzlich für die Corona-Bekämpfung eingesetzt werden. Hinzu kommen weitere Personen von außerhalb der Stadtverwaltung, die vom Robert-Koch-Institut (RKI) angefordert wurden oder von Hilfsorganisationen stammen.

In Bochum ist das Infektionsgeschehen seit Tagen kaum gestiegen, was die Testergebnisse angeht. Jetzt nimmt der Druck zu, weitere Lockerungen umzusetzen. Gehören Sie eher zu den bremsenden oder den treibenden Fachleuten in dieser Lage?

Die Covid-19-Infektionszahlen sind im Landesschnitt in den letzten vier Wochen stärker gestiegen als in Bochum (jeweils bezogen auf 100.000 Einwohner). Im Land NRW gab es bislang im Durchschnitt insgesamt 188 Infizierte pro 100.000 Einwohner, in Bochum lediglich 118 pro 100.000 Einwohner. Die Mehrzahl der Infizierten ist mittlerweile genesen. Diese ruhige Entwicklung kann sich jedoch sowohl in Bochum wie auch im ganzen Land schnell ändern. Ich finde es richtig, wenn Lockerungen maßvoll und Schritt für Schritt erfolgen, um anschließend erst die Zahl der Neuinfektionen zu beobachten. Der nächste Schritt der Lockerungen sollte erst erfolgen, wenn der vorhergehende Schritt infektionsepidemiologisch gut nachvollzogen wurde. Das Ziel muss weiterhin sein, die Kapazitäten des medizinischen Versorgungssystems nicht zu überlasten, damit jeder, der eine Behandlung nötig hat, diese auch bekommt.

Die Stadt Bochum hatte rasch regiert und im Harpener Feld eine
Die Stadt Bochum hatte rasch regiert und im Harpener Feld eine "Drive in"-Stelle für Corona-Tests aufgebaut. © FUNKE Foto Services | Olaf Ziegler

„Ich erwarte künftig national eine bessere Vorbereitung“

Wie hat die Pandemie Sie ganz persönlich getroffen in Ihrer Arbeit und Ihren Arbeitsabläufen? Wie müssen sich Gesundheitsämter künftig und aktuell aufstellen, um in dieser Krise noch besser agieren zu können und auf künftige zu reagieren. z.B. Notfalllager für Schutzmasken, Beatmungsgeräte etc. anlegen? Personal aufstocken?

Die Stadtverwaltung kann derzeit adäquat mit den Herausforderungen der Pandemie umgehen. Die Anpassung des Personals erfolgte in mehreren Schritten je nach dem erkannten Bedarf, dann aber schnell jeweils innerhalb weniger Tage. Das gilt auch für die notwendige Strukturanpassung. Es zeigt sich allerdings, dass die Zahl der wirklichen Fachleute dadurch nicht erhöht werden kann. Die zusätzlichen Mitarbeiter werden von den im Gesundheitsamt vorhandenen Fachleuten eingearbeitet, das geht aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Hier sehe ich die Notwendigkeit der Verstärkung des Gesundheitsamtes für die Zukunft. Hinsichtlich der Materialien (Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel) erwarte ich zukünftig eine bessere Vorbereitung auf nationaler Ebene, um Engpässen wirkungsvoller zu begegnen.

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