Bochum. Tradition am Tresen: Die „Postkutsche“ wird 100 Jahre alt. Eine der ältesten Bochumer Kneipen soll auch die Dauerbaustelle nebenan überleben.

Das Foto aus den 50er Jahren verströmt biergeschwängerte Wirtshausseligkeit. In Viererreihen drängen sich behütete Männer vor dem Tresen. Links heißt es: Hoch die Tassen! Rechts lächeln die weiß bekittelten Wirtinnen in die Kamera. Noch eins? Ja sicha! „Damals hat Fiege zweimal täglich den Bierwagen geschickt“, sagt Oliver Witt. Heute reicht eine wöchentliche Lieferung. Die „Postkutsche“ hat dennoch überlebt – und kann als eine der ältesten Bochumer Kneipen ihr 100-jähriges Bestehen feiern.

1919 hatte Familie Blum die Wirtschaft an der Viktoriastraße 7 eröffnet. „Zu besten Zeiten, so ist es überliefert, schaffte unser Gespann 40 Hektoliter Bier im Monat heran“, berichtet die Fiege-Brauerei. Unglaublich: Zeitgleich wurde auch die gleiche Menge an Bränden und Likören verkauft. Allen voran der Magenbitter „Postillon“ aus eigener Produktion, der zum Herrengedeck gehörte.

Gaststätte wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört

Im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs wurde die Kneipe zerstört. 1952 wurde sie von Familie Blum neu eröffnet: im Eckhaus Nummer 16 auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Seinerzeit war der Busbahnhof gleich nebenan. Das bescherte der Wirtschaft auch etliche Tagesgäste.

1979 wurde daraus ein Geschäftsmodell. Die „Postkutsche“ hieß fortan „Von 8 bis 8“. Und damit waren keineswegs die Abend- und Nachtstunden gemeint. Morgens auf, zur Tagesschau zu: Diese Öffnungszeiten stellten die Zielgruppe offenbar zufrieden. Zumindest am Anfang. „Opa war früher rigoros. Egal wie voll es war: Um 20 Uhr mussten alle raus. Ich handhabe das freizügiger“, sagte Jochen Blum, kurz bevor er 2012 die Familientradition beendete und nach Norwegen auswanderte.

Wirtschafts-Wunder: Die „Postkutsche“ anno dazumal. Die Gäste drängten sich vor dem Tresen.
Wirtschafts-Wunder: Die „Postkutsche“ anno dazumal. Die Gäste drängten sich vor dem Tresen. © Fiege-Brauerei

Neuer „Kutscher“, neues Publikum

Ein weiteres, einzigartiges Stück Reviergeschichte drohte zu verschwinden. Auftritt Oliver „Olli“ Witt. Vor gut sieben Jahren übernahm der gelernte Versicherungskaufmann die Gaststätte, ohne das 50er-Ambiente dem stylischen Zeitgeist zu opfern. Alles blieb, wie es immer war. Dabei wollte Witt den Zapfhahn eigentlich nur an den klassischen Ausgeh-Abenden freitags und samstags aufdrehen. Doch schnell tat sich Erstaunliches, ein Wirtschafts-Wunder, wenn man so will: Ein vorwiegend jüngeres, auch studentisches Publikum entdeckte Opas Pinte für sich.

Gewerkschaft warnt vor Kneipensterben

Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) warnt vor einem Gastronomie-Sterben. In NRW habe zwischen 2007 und 2017 jede neunte Gaststätte und Kneipe geschlossen.

„Vom Fußballabend bis zum Grünkohlessen mit dem Sportverein: Die Gastronomie steht für ein Stück Lebensqualität“, so die NGG. Es seien auch etliche Arbeitsplätze in Gefahr.

In Bochum sind in den letzten Jahren vor allem klassische Kneipen in den Außenbezirken, etwa in Hamme, verschwunden.

„Die Kutsche“, wie sie genannt wird, ist bis heute flott unterwegs. „Von 25 bis 60, alles Bochumer“: So beschreibt Oliver Witt sein Stammpublikum. Dienstags bis samstags werden Bierchen gezischt und Spirituosen feinsten Zuschnitts gekippt. Dienstags bis samstags. Am Wochenende bis 3 Uhr nachts. Essen gibt’s nicht. Ist hier Nebensache. Anders als der VfL, dessen Spiele live gezeigt werden. Dann ist auch sonntags oder montags geöffnet.

Traditionskneipe soll Dauerbaustelle überleben

Holprig ist’s für Kutscher Olli gleichwohl. Noch immer schmerzt das Nichtrauchergesetz. Lärm und Staub ohne Ende verursacht der ewig erscheinende Abriss des alten Justizzentrums gleich nebenan. „Aber ich bleibe am Ball“, verspricht der 43-jährige, der stolz auf den runden Geburtstag ist. „Bochumer Symphoniker, Schauspielhaus, Postkutsche: Alle werden 100!“ Und: „Wenn irgendwann einmal das neue Viktoria-Karree steht, bin ich hier an der Sonne.“

Ob sich die Gäste dann wie einst in Viererreihen am Tresen drängen, bleibt abzuwarten.