Westenfeld. Den Mordanschlag auf türkische Bewohner verarbeitet Senol Güngör in „Solingen 1993, 25 Jahre danach“. Ömer Pekyürek verfilmte das Drehbuch.

Original-Aufnahmen erscheinen, Zeugen sprechen über den Mordanschlag. Ein Sprecher versucht das Grauen zusammenzufassen, das sich in der Nacht zum 29. Mai 1993 in Solingen ereignete. Schnitt. Eine junge Frau wird anstelle der Doku gezeigt. In Teilen ist sie eine filmische Version von Senol Güngörs (55) realer Tochter. Mit ihr tauchen die Zuschauer ein in eine fiktive Geschichte, in der es sich um Ängste, Konflikte, Verarbeitung, Reaktionen und Hoffnungen dreht.

Aussage bleibt haften

„Solingen 1993, 25 Jahre danach“ heißt der preisgekrönte Kurzfilm des Wattenscheiders Güngör (Drehbuch, Produzent) und des Regisseurs Ömer Pekyürek. Bei einem rassistischem Anschlag auf ein Zweifamilienhaus in Solingen, bewohnt von der türkischen Familie Genç, starben fünf Menschen, weitere Bewohner erlitten teils schwere und bleibende Verletzungen. Unter Migranten ging fortan Angst um, erinnert sich Senol Güngör. Besonders nah ging ihm ein Satz seiner damals zehnjährigen Tochter: „Ich will da nicht hingehen, da wohnen nur Türken. Die Häuser von türkischen Menschen werden angezündet.“

Ihre Aussage blieb haften, ist Jahre später im Film zu hören und entfaltete unmittelbare Wirkung. Güngör ging mit auf die Straße, setzte friedlich Zeichen – auch in Solingen. „Ich bin für das Zusammenleben und die Integration“, sagt der 55-Jährige mit ruhiger, bestimmter Stimme. Verständnis für Ausschreitungen während der Demonstrationen habe er nie gehabt: „Egal, wer randaliert hat. Kämpfe sind keine Lösung und Vorurteile gibt es leider auf allen Seiten.“

Interviews mit Jugendlichen

Für das Drehbuch zu „Solingen 1993“ sprach Güngör vor allem mit Jugendlichen aus dem gesamten Ruhrgebiet: „Ich wollte wissen, was ihre Eltern damals gegen Rassismus gemacht haben, damit auch die heutige Generation von der Geschichte lernt.“ Viele türkischstämmige Menschen hätten damals große Ängste ausgestanden: „Einige haben die Namen auf ihren Klingelschildern gegen typisch deutsche ausgetauscht.“

Der Kurzfilm soll Ängste nehmen, Toleranz geben und zeigen, dass man „gegen Faschismus aktiv werden muss“. Seit den Anschlägen sei das Verhältnis zwischen den Nationalitäten besser geworden, bilanziert Güngör: „Auch türkische Familien sind viel offener geworden.“

Anfänge in Essen-Steele

Die Geschichte seiner Familie deckt sich mit vielen anderen: „1964 kam mein Vater in der ersten Generation nach Essen-Steele, 1974 zogen meine Mutter und meine beiden Geschwister hinterher.“ Er selbst verließ die türkische Heimat Çorum (anatolische Schwarzmeer-Region) als 17-Jähriger Nachzügler erst 1980: „Mein Vater hat mir sofort Arbeit in einem Essener Eisenwerk besorgt.“

Gedreht wurde auch in Wattenscheid und Bochum

Der knapp 27-minütige Kurzfilm „Solingen 1993“ wurde erstmals zum 26. Jahrestag des Brandanschlages in Solingen aufgeführt. Beim „Deutschen Generationenfilmpreis 2019“ wurde das Werk von Senol Güngör und Ömer Pekyürek mit dem Hauptpreis in der Kategorie „Team-Award“ ausgezeichnet. Auch in Bochum sind Vorführungen geplant.

Gedreht wurde an insgesamt 17 Tagen in Wattenscheid (Westenfelder und Graf-Adolf-Straße), Bochum (Alleestraße), Essen, Duisburg und Dortmund. Die Produktion war im Januar abgeschlossen. Bei internationalen Vorführungen wird der Film künftig mit englischen Untertiteln gezeigt, auch türkische sind in Planung, so Güngör, der zudem zwei weitere Filme umsetzen möchte.

„Solingen 1993“ wurde unter anderem von diversen Kulturbüros, lokalen Vereinen und Organisationen unterstützt und kostete rund 15.000 Euro.

Schon immer habe er ein Faible für Film und Theater gehabt, lebt seine Leidenschaft seit nunmehr 30 Jahren aus, in denen Stücke auf Deutsch und Türkisch sowie an die 100 Sketche seiner Feder entsprungen sind: „Die deutsch-türkischen Unterschiede spielen bei mir häufig eine Rolle.“ Aber auch Themen wie Frauenrechte, Arbeitslosigkeit und den Tierschutz greife er auf.

Eine Angst wurde besiegt

Er selbst ist längst angekommen: „Ich bin deutsch, nur etwas dunkler“, scherzt er im Gespräch. „Die Türkei ist für mich wie ein Urlaubsland, hier in Deutschland fühle ich mich frei, kann schreiben und politisch arbeiten.“ Mit einem zufriedenen, breiten Lächeln fügt Güngör an: „Meine Tochter ist mittlerweile selbst Mutter zweier Kinder und verheiratet – mit einem Deutschen. Sie hat ihre Ängste also besiegt.“