Bochum. . Andrea Katscher aus Bochum leidet unter der Fettverteilungsstörung Lipödem. Ihr Alltag besteht aus Schmerz und Scham. Helfen kann nur eine OP.
„Ich hätte gerne ein normales Leben, aber es dreht sich alles um meine Krankheit“, sagt Andrea Katscher. Die 48-Jährige leidet unter dem Lipödem, einer Fettverteilungsstörung an Armen und Beinen. Mit Beginn der Pubertät fing es an. „Du hast Adipositas und musst abnehmen“, hieß es stets von allen Seiten. Sie erinnert sich an permanentes Mobbing, das es noch heute gibt. Trotz aller Diät-Versuche wurde die Krankheit immer schlimmer. Doch es sollte Jahre dauern, bis Andrea Katscher wusste, was mit ihr los ist.
2013 bekommt sie die Diagnose Lipödem. In gewisser Weise eine Erleichterung für die kaufmännische Angestellte: „Man macht sich Vorwürfe und denkt, man ist nicht normal.“ Endlich weiß sie, warum ihre Beine so aussehen, wie sie aussehen: Unproportional und viel breiter, als es zum Oberkörper passen würde, mit überhängender Haut an den Knien. Und sie weiß auch, woher die Schmerzen und das Spannungsgefühl kommen.
Krankheit beginnt mit Pubertät – fast nur bei Frauen
Woher die Erkrankung Lipödem aber kommt, sei bisher nicht geklärt, sagt Dr. Ulrike Rasche, Phlebologin und Hausärztin in Bochum. „Man weiß auch nicht, warum so viele Frauen erkrankt sind. Mir fällt aber auf, dass es in der Praxis mehr werden.“ Sie mutmaßt, dass größere Bekanntheit in den Medien verantwortlich sein könnte, weil mehr und mehr Frauen das Krankheitsbild Lipödem kennen. Auch eine vermehrte Einnahme von Hormonen, zum Beispiel die Anti-Baby-Pille, könne Grund sein. Rasche: „Die Krankheit beginnt meist mit der Pubertät und fast nur bei Frauen. Heilbar ist das Lipödem nicht, es kann reduziert werden. Die Veranlagung bleibt.“
50 Kilo Gewichtsverlust und dreimal pro Woche Sport
Bei Andrea Katscher sorgt die Diagnose nicht für ein Ende ihres Leidens. Viel mehr beginnt eine Zeit mit weiteren Hürden. „Schon die Bestrumpfung bei der Krankenkasse durchzukriegen, ist nicht einfach“, erzählt sie. Und meint damit Kompressionsstrümpfe für Arme und Beine, die durch die enge Passform ein Fortschreiten des Lipödems verhindern sollen. Andrea Katscher kämpft sich durch viel Bürokratie, sie bekommt die Strümpfe – und irgendwann auch ärztliche Behandlungen und Geräte für Zuhause verschrieben. Außerdem nimmt sie 50 Kilo ab, geht fünf Mal pro Woche ins Fitnessstudio und isst nur noch 1200 Kilokalorien am Tag. Das raubt Zeit – neben Andrea Katschers Vollzeitjob. Und das Schlimme ist: Es wird nicht besser. „Mir hilft nur eine OP, aber ich weiß nicht, was ich noch beweisen muss, um Hilfe zu bekommen.“ Gutachten mehrerer Ärzte bestätigen die Notwendigkeit. Trotzdem verliert sie vor dem Sozialgericht.
Ein bisschen Hoffnung gibt es noch für Andrea Katscher. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) möchte die Liposuktion, die Fettabsaugung bei Lipödemen, zur Kassenleistung machen. „Bis zu drei Millionen Frauen mit krankhaften Fettverteilungsstörungen leiden täglich darunter, dass die Krankenkassen ihre Therapie nach einem Gerichtsurteil nicht bezahlen. Ihnen wollen wir helfen.“
„Ich wünsche mir Hilfe für alle Frauen.“
So weit, so gut – findet Andrea Katscher. Allerdings stört sie vor allem eines: Die Gesetzesänderung soll nur für Frauen im Stadium 3 der Krankheit gelten. Katscher selbst befinden sich zwischen Stadium 2 und 3. Sollte die gesetzliche Änderung durchkommen, hätte sie Chancen. Aber: „Ich wünsche mir Hilfe für alle Frauen. Jedes Stadium sollte operiert werden, wenn es notwendig ist.“
Bis es irgendwann mal so weit sein könnte, kämpft Andrea Katscher weiter. Um irgendwann richtig leben zu können. Ohne Schmerzen und ohne die vielen Stunden, die sie jeden Tag an ihre Krankheit verliert.
>>> Seit einem Jahr: Selbsthilfegruppe in Bochum
Wer unter dem Lipödem leidet, ist damit nicht allein. Katja Hartz und Melanie Illburger sind selbst betroffen. Deshalb haben die beiden Frauen im Januar 2018 eine Selbsthilfegruppe gegründet. Die erste und einzige für die Krankheit in Bochum.
Mittlerweile sind zwölf Frauen dabei, sie treffen sich einmal im Monat für drei Stunden. „Los geht es damit, dass wir uns vom Erlebten der vergangenen Wochen erzählen“, sagt Katja Hartz. Danach folgt ein fachlicher Teil zu unterschiedlichen Themen – über Kompressionsstrümpfe, Lymphdrainage oder die Therapie durch den Arzt. Denn, so Hartz: „Ärzte wissen bei der Behandlung längst nicht alles.“ Es folgt Entstauungsgymnastik. Katja Hartz und Melanie Illburger zeigen Übungen, die die Teilnehmerinnen zu Hause nachmachen können. Beginnend am Hals, bis zu den Beinen. Ziel: Die Lymphflüssigkeit soll besser fließen. „Der Druck in den Beinen ist teilweise so groß, dass Hochlegen allein nicht hilft“, sagt Hartz.
Mit jemandem reden, der weiß, worüber er spricht
Jessica Weiss ist seit Juni vergangenen Jahres Mitglied der Selbsthilfegruppe. „Ich brauchte jemanden zum Reden, der weiß, worüber er spricht. Über die Schmerzen und das, was einem auf der Seele brennt“, sagt die 37-Jährige. Sie weiß seit 2014, dass sie betroffen ist. Während der Pubertät fing alles an, so richtig will sie das alles immer noch nicht realisieren. Die anderen in der Selbsthilfegruppe helfen ihr, wenn es mal nicht läuft. „Oder wenn ich einen Tritt in den Hintern brauche“, meint sie schmunzelnd.
Auch um Mode geht es manchmal bei den Treffen. Zum Beispiel in Sachen Stützstrümpfe – die es längst nicht mehr nur in einem hässlichen hautfarbenem Ton gibt. „Ich mag es gerne bunt“, meint Jessica Weiss und zeigt Katja Hartz ein Bild von dunkelblauen Arm- und pinken Beinstrümpfen, kombiniert mit einem hellblauen Kleid. Die Treffen sind für die Frauen mittlerweile mehr geworden als eine Selbsthilfegruppe. Die Selbsthilfe gehört dazu, aber ebenso die Unterhaltungen über ganz belanglose Alltagsthemen.