Bochum. . Björn Pfadenhauer ist Chef des Bundesverbands der selbstständigen Physiotherapeuten. Seine Berufsgruppe leide unter miesen Bedingungen, klagt er.

In der Gesundheitsbranche herrscht Fachkräftemangel. Nicht nur in der Kranken- und Altenpflege, auch bei den Physiotherapeuten. Laut Agentur für Arbeit NRW dauert es durchschnittlich 167 Tage, bis eine Stelle besetzt ist. Björn Pfadenhauer ist Geschäftsführer des Bundesverbands der selbstständigen Physiotherapeuten mit Sitz in Bochum. Im Gespräch mit WAZ-Redakteur Tobias Bolsmann erläutert er die Probleme.

Wenn ich heute mit einer Verordnung für eine Rückenbehandlung zum Physiotherapeuten käme, wann erhielte ich einen Termin?

Pfadenhauer: In etwa drei Wochen.

Bis dahin können die Rückenschmerzen aber wieder von selbst weg sein...

...sie können weg sein, sie können aber auch anhalten. Wenn Sie Rückenschmerzen haben, haben Sie ein akutes Problem. Die Frage ist ja schon, wie lange Sie auf einen Termin beim Arzt gewartet haben. Dürfte auch den einen oder anderen Tag gedauert haben. Und wenn Sie zum Physiotherapeuten geschickt werden, müssen Sie eben noch einmal drei Wochen warten. Das ist schon üppig, mehrere Wochen mit Rückenschmerzen rumzulaufen, ist keine schöne Sache.

Woran liegt die lange Wartezeit?

Auf der einen Seite haben wir in der Physiotherapie einen großen Fachkräftemangel zu verzeichnen. Die Zahl der Physiotherapeuten wird nicht größer, die Schülerzahlen gehen zurück, auf der anderen Seite wächst der Bedarf an Therapiemaßnahmen, weil die Menschen älter werden und mehr Beschwerden haben. Physiotherapie kann sie länger mobil halten. Dadurch können sie dann länger in ihrem häuslichen Umfeld bleiben, das heißt die Vorteile von Physiotherapie sind sehr erheblich.

Im Dezember hat Pfadenhauer - hier mit Physiotherapeut Christoph Biele - die Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering (SPD) auf die Probleme aufmerksam gemacht.
Im Dezember hat Pfadenhauer - hier mit Physiotherapeut Christoph Biele - die Bundestagsabgeordnete Michelle Müntefering (SPD) auf die Probleme aufmerksam gemacht. © Patrick Fischer

Was sind die Ursachen für den Fachkräftemangel?

Der Mangel zieht sich ja durch viele Branchen, bei uns hat es auch etwas mit dem demografischen Wandel zu tun. Wir haben weniger junge Menschen, und für die stellt sich die Frage, wie sie einen Beruf auswählen. Ich bekommen in den Gesprächen mit unseren Mitgliedern den Eindruck, dass es Menschen sind, die ihren Beruf gerne machen und Überzeugungstäter sind. Doch die Rahmenbedingungen haben sich deutlich verschlechtert. Viele verlassen den Beruf, die Schülerzahlen sinken. Wenn man sieht, was man als Physiotherapeut in den ersten Jahren verdient, muss man sich Gedanken darüber machen, ob man das will.

Wo liegt denn der Lohn für einen Berufsanfänger?

Im Schnitt bei 2100 Euro brutto.

Da scheint es kein Wunder, dass es ein Nachwuchsproblem gibt...

...und diese Probleme werden in der Politik inzwischen deutlich wahrgenommen, weil wir bei der Politik präsent sind, unsere Versorgungsprobleme beschreiben und deshalb großes Gehör finden.

Haben Sie schon etwas erreicht?

Ja, zum Beispiel, dass bis 2019 einige Vergütungssteigerungen erreicht wurden, die so vorher nicht erreicht wurden.

Aber das war doch nur ein Nachholeffekt nach einer längeren Pause bei den Lohnsteigerungen.

Stimmt. Im Bundesgesundheitsministerium hat man erkannt, dass wir auf eine massive Unterversorgung zusteuern. Eigentlich ist sie schon da, aber sie wird noch größer. Der Beruf ist für den Nachwuchs nicht mehr attraktiv. Der Beruf selbst ist wunderbar, die Rahmenbedingungen sind schlecht.

Ein Beispiel bitte.

Die Ausbildung ist in vielen Bundesländern kostenpflichtig. Sie kann zwischen 15.000 und 25.000 Euro kosten. Seit einigen Monaten übernimmt in NRW das Land 70 Prozent dieser Kosten. Ein Anfang, aber eine Zeit, in der die Schüler überwiegend nichts verdienen. Und dann starten sie mit einem Gehalt, von dem sie viele Jahre einen Bildungskredit abzahlen müssen.

Kann dieser Nachwuchs-Fachkräftemangel dazu führen, dass Praxen irgendwann schließen?

Das wird die Konsequenz sein. Wenn man eine Praxis in der Herner Innenstadt nimmt: Eine Mitarbeiterin fällt aus, weil sie in Elternzeit geht, vielleicht noch ein Kollege, ein weiterer wechselt die Praxis. In NRW braucht diese Praxis im Schnitt acht Monate, um eine Stelle wieder zu besetzen. Wenn Mitarbeiter ausfallen, können Praxen in eine bedrohliche Lage kommen. Einfach so.

Wenn Sie sagen, dass Sie von der Politik gehört werden: Wie macht sich das bemerkbar?

Indem wir Forderungen vorbringen, diese mit Fachpolitikern und den Ministern besprechen, die Politik dann Vorschläge macht und wir über diese Verbesserungsvorschläge diskutieren können, die dann im besten Fall zu Gesetzesänderungen führen.

Wegen der Alterung der Gesellschaft steigt der Bedarf an Physiotherapeuten.
Wegen der Alterung der Gesellschaft steigt der Bedarf an Physiotherapeuten. © HalfPoint

Welche Forderungen außer einer besseren Vergütung haben Sie?

Wir bestehen in der Tat darauf, dass an der Gehaltsschraube massiv gedreht wird. Aber wir müssen generell im Gesundheitssystem umdenken.

Inwiefern?

Bleibe wir beim Beispiel mit den Rückenschmerzen: Sie sind erst beim Hausarzt, dann eventuell beim Facharzt und werden dann erst zum Physiotherapeuten geschickt? Die Frage ist: Warum können Sie nicht direkt zum Physiotherapeuten gehen? Das ist eine zentrale Forderung, die wir im Moment haben. Das ist der sogenannte Direktzugang zum Physiotherapeuten, der in über 40 Ländern schon bestens funktioniert, in Deutschland aber nicht erlaubt ist. Dabei ist nachgewiesen, dass dieses System relativ viele Kosten spart, weil bestimmte Dinge wegfallen. Und man ist schneller in der Behandlung. Einige Krankenkassen unterstützen uns dabei.

Die Herner Krankenhaus-Gruppen fordern einen Digitalpakt für Krankenhäuser. Wie sieht es in dieser Hinsicht in Ihrem Bereich aus?

Die Digitalisierung ist auch bei uns eins der großen Themen. Jens Spahn hat an seinem ersten Tag im Amt klar gemacht, dass er das Thema angreifen will. Auch hier müssen sich Strukturen ändern.

Inwiefern?

Jede vierte ärztliche Verordnung, die in einer Physiotherapiepraxis landet, ist falsch. Wenn sie falsch ausgestellt ist, bekommt der Physiotherapeut sie nicht bezahlt. Und der Patient wird nach drei Wochen Wartezeit wieder zum Arzt zurückgeschickt, weil er eine neue Verordnung braucht. Kann man nicht mit einem E-Rezept Abhilfe schaffen? Oder Therapieberichte digital speichern?

Aber wer finanziert das?

An anderer Stelle haben die Vorarbeiten zur Digitalisierung im Gesundheitsbereich Milliarden verschlungen, für einen Bruchteil hätte man die Digitalisierung im Bereich der Physiotherapie voranbringen können. Jetzt sollen aber zunächst nur Ärzte, Apotheker und Psychotherapeuten berücksichtigt werden. Die Ausrüstung aller Physio- und Ergotherapiepraxen mit Kartenlesegeräten würde lediglich sechs Millionen Euro kosten. Es könnte aber noch andere Probleme geben. Wenn das E-Rezept bei Ärzten eingeführt wird, bei den Physiotherapeuten aber nicht, dann können diese Rezepte nicht gelesen werden, weil die Ausrüstung fehlt. Spahns Vorstoß ist gut, aber unzureichend, weil er alle sofort mit ins Boot holen muss.

Herner Kontinuität bei Geschäftsführung

Der Bundesverband der selbstständigen Physiotherapeuten mit Sitz in Bochum vertritt bundesweit die Interessen von mehreren Tausend Mitgliedern.

Auf der Position des Geschäftsführers gibt es eine Herner Kontinuität. Pfadenhauers Vorgänger war der heutige Herner OB Frank Dudda.