Bochum. Dr. Jens Meyer und Thomas Beck sind seit über zwei Jahrzehnten als Kinderärzte tätig. Sie beobachten eine wachsende Verunsicherung vieler Eltern.
Dr. Jens Meyer ist seit 20 Jahren niedergelassener Arzt, er leitet eine Praxis in Querenburg und eine in Stiepel. Thomas Beck ist seit 25 Jahren als niedergelassener Kinderarzt in Wattenscheid-Mitte tätig. Mit ihnen sprach Redakteurin Gianna Schlosser.
Herr Beck, wie hat sich Ihr Arbeitsalltag in den vergangenen Jahren verändert?
Thomas Beck: Das Patientenaufkommen in meiner Praxis wächst stetig. Im Quartal betreue ich heute fast 1000 Kinder mehr als früher. Gleichzeitig steigt der Anteil der Eltern, die kaum Deutsch sprechen, was natürlich einen zeitlichen Mehraufwand bei der Behandlung darstellt. So geht es vielen Praxen in sogenannten Brennpunktvierteln. Da lassen sich manche Ärzte nicht gern nieder.
„Zappelphilipp“ blieb früher unbehandelt
Wie steht es um die Gesundheit der Wattenscheider Kinder?
Beck: Die Kinder, die regelmäßig zu den Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen beim Arzt vorgestellt werden, sind durchaus gut versorgt. Natürlich hat sich die Wahrnehmung verändert, ebenso die medizinischen Kenntnisse. Ein Beispiel: Kinder, die unruhig sind, galten früher als Zappelphilipp, damals hat diesbezüglich keiner etwas unternommen. Heutzutage kennt man das Phänomen ADHS und stellt ausgesprochen unruhige Kinder zur Diagnostik vor. Man könnte daraus schließen, dass die Krankheit explosionsartig zugenommen hat. Man achtet jedoch in der jetzigen Zeit nun einmal mehr darauf, nimmt das ernst und lässt den Kindern eine Behandlung zukommen. Das verändert also die Statistik.
Der Gesundheitsbericht beinhaltet Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen. Sind diese Daten für Sie interessant?
Jens Meyer: Wir als Kinderärzte bekommen von diesem Bericht überhaupt nichts mit. Wir werden auch nicht dazu befragt. Dabei kennen wir die Kinder häufig schon von klein auf. So können wir aufgrund der bestehenden Vertrautheit oft viel leichter das wirkliche Leistungsvermögen der Kinder abrufen. Mehr direkte Kommunikation vom Gesundheitsamt mit uns Kinderärzten würde in vielen Fallen zu anderen Ergebnissen der Schuleingangsuntersuchungen und zu weniger Missverständnissen und Aufregung bei den Eltern führen, die die Ergebnisse ihrer Kinder oft als persönliche Beurteilung ihrer Leistung als Eltern empfinden. Dies ist sicher nicht im Sinne aller Beteiligten und vor allem nicht im Sinne der Kinder.
Beck: Es würde mich schon interessieren, was in Wattenscheid nicht so gut läuft. Es wäre hilfreich, wenn man uns über die Ergebnisse informierte, damit wir den Kindern noch besser helfen können.
Sehtest für Kinder ist auch eine Geldfrage
Dann werden wir mal konkret: Offenbar ist der Anteil der Kinder, die schlecht sehen, in Wattenscheid sehr hoch, in Stiepel dagegen recht niedrig. Wie lässt sich das erklären?
Beck: Früherkennung und -behandlung sind oft entscheidend für den Erfolg. Deshalb ist das Neugeborenen-Hörscreening mittlerweile eine Vorsorgeleistung der gesetzlichen Kassen – die Früherkennung von Sehstörungen allerdings nicht. Es ist also eine Geldfrage, ob ein Kind diesen Test bekommt. Nun haben wir in Wattenscheid-Mitte eher einkommensschwächere Familien, die abwägen, ob sie sich ein solches Screening leisten können. Ein Zusammenhang liegt also nahe. Das ist aber ein gesellschaftspolitisches Problem, kein medizinisches.
Auch bei anderen Ergebnissen stehen Wattenscheider Kinder schlechter da als Kinder aus Stiepel.
Meyer: Viele dieser Unterschiede haben sicher auch mit dem Engagement der Eltern zu tun. In Stiepel werden die Kinder oft sehr intensiv gefördert, was für viele Familien aus Querenburg aus vielerlei Gründen nicht möglich ist.
Gesunde Ernährung ist teurer
In Wattenscheid ist auch Adipositas ein größeres Problem als in Stiepel.
Beck: Die meisten Jungs, die in die Praxis kommen, spielen Fußball; die Mädchen machen nicht ganz so viel Sport. Das liegt jedoch oftmals daran, dass man sie weniger dazu motiviert. Adipositas kann aber auch Kinder betreffen, die Sport machen. Das hat eher mit schlechten Ernährungsgewohnheiten zu tun. Heute nehmen viele Kinder ohnehin schon viel mehr Kalorien auf, als sie bräuchten. Gesunde Ernährung ist in aller Regel teurer. Hinzu kommt, dass gesunde Ernährung aufwendiger ist. Viele Menschen greifen deshalb lieber zu Convenience-Produkten. Diese sind meist deutlich kalorienreicher als gesunde „frische“ Ernährung. Da wünsche ich mir mehr Aufklärung, eine größere Sensibilisierung der Öffentlichkeit. Es gibt zwar Adipositas-Schulungen, aber es ist schwer, Plätze dort zu bekommen. Hier sehe ich noch viel Handlungsbedarf.
Welche Rolle spielen Lehrer und Erzieher bei der Kindergesundheit?
Beck: Erzieher und Lehrer sind in ihrer Wahrnehmung geschärfter, sie schicken Kinder zur Abklärung von Auffälligkeiten zum Kinderarzt. Oftmals werden uns Kinder von außen geschickt, bei denen die Diagnose sozusagen direkt mitgeliefert wird. Beispielsweise mit der Aufforderung: „Verschreib mal Ergotherapie!“. Hier muss man jedoch erst einmal genau abklären, ob es tatsächlich ein medizinisches Problem für das auffällige Verhalten gibt oder ob beispielsweise eher ein Bedarf an Frühförderung besteht.
Meyer: Viele laufen irgendwelchen Strömungen hinterher und die entsprechen nicht unbedingt dem, was wir als Kinderärzte empfehlen. Braucht das Kind mit drei Jahren schon Logopädie, soll man direkt nach der Geburt zum Osteopathen? Leider hat sich das ein wenig verselbstständigt, so dass wir oft als Kinderärzte nicht mehr gefragt, sondern bevormundet werden.
Manchmal erziehen die Kinder die Eltern
Und wie geht es den Eltern?
Beck: Mein Eindruck ist, dass es Eltern derzeit schwerer fällt, Kinder zu erziehen. Es gibt viele Ratgeber und vielfach besteht die Meinung, dass sich Kinder heutzutage frei entwickeln können müssen. Das hat zur Folge, dass es manchmal wirkt, als ob das Kind die Mutter erziehen würde. Ein Beispiel: Ich hatte ein Spielhaus ins Wartezimmer gestellt und die Kinder sind so lange auf dem Dach herumgesprungen, bis es eingebrochen ist und kaputt war. Die Eltern saßen daneben und griffen nicht ein, sagten erst einmal nichts. Ähnliches geschieht häufig.
Meyer: Heute kommen die Eltern mit ihren Kindern viel häufiger, weil sie sagen: „Mit dem Fieber kann ich nicht umgehen, jetzt hat er gehustet, was bedeutet das…?“ Diese Sicherheit, die früher da war, weil die Oma noch etwas dazu gesagt hat, fehlt heute häufig.