Bochum. 2014 wurde die Inklusion an Schulen eingeführt. Bochumer Lehrer sehen sich mit der Umsetzung weiterhin überfordert. Auch die Schüler leiden.
Einleitende Worte bei Diskussionsrunden sind eine Wissenschaft für sich. Die Diskussionsleiter wollen nicht zu viel verraten, wollen aber immerhin neugierig machen und, ja, die Teilnehmer zur Diskussion einladen. Uli Kriegesmann sagt deshalb: „Wir wollen gute Inklusion. Aber es läuft noch nicht so.“ Das ist wohl untertrieben. Das zumindest lässt sich nach fünf Jahren Inklusion an Schulen und 90 Minuten Austausch dazu zwischen Lehrern, Sonderpädagogen und Bildungsgewerkschaftern erneut festhalten.
Als Privatperson teilgenommen
Kriegesmann ist Lehrer, derzeit aber nicht an einer Schule aktiv. Er sitzt im Personalrat Gesamtschule der Bezirksregierung Arnsberg und ist Vorsitzender der Ortsgruppe Bochum der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. In dieser Funktion hat er zur Runde über die Inklusion geladen. Die ist ein Dauerthema. Die fünf Gesprächsteilnehmer bestätigen das. Einige sind Lehrer. Sie nehmen als Privatpersonen an der Runde teil, um Ärger mit ihrem Arbeitgeber zu vermeiden.
Es geht um Personal
Helle Timmermann ist ebenfalls in der Gewerkschaft aktiv. Martin Breuer ist Leiter einer Gesamtschule in Bochum. Doris Stiller ist Lehrerin an einer Hauptschule in Bochum. Stefan Parusel und Bernd Ewering arbeiten als Sonderpädagogen. Parusel an einer Grundschule, Ewering an einer Gesamtschule, beide in Bochum.
Martin Breuer holt gerne eine Karikatur heraus, um das Nicht-Funktionieren von Inklusion zu erklären. Es ist eine von Hans Traxler aus dem Jahr 1975. Inklusion war da noch kein Thema. Die Karikatur beschreibt die Probleme damit dennoch trefflich. Sie zeigt eine Reihe von Tieren, die in Reihe nebeneinander vor einem Baum stehen: ein kleiner Vogel, ein Schimpanse, ein Storch, ein Elefant, ein Goldfisch im Glas, ein Seelöwe und ein Hund. Ihnen gegenüber sitzt ein Mensch. Er sagt: „Im Sinne einer gerechten Auslese lautet die Prüfungsaufgabe für Sie alle gleich: Klettern Sie auf den Baum!“
Keine Zeit für Absprachen
Das große Problem bei der Inklusion sei weiterhin, sagt Breuer, „dass sie von oben nach unten durchgeführt wurde. Da hat es die UN-Behindertenrechtskonvention gegeben. Da haben sich Menschen im Ministerium etwas überlegt und auf den Weg gebracht, aber vorher nicht an der Basis nachgefragt“. Das habe nicht klappen können. „Wir haben jetzt in den Klassen viele gelabelte Kinder sitzen, aber wir haben keine echte Inklusion.“
Gelabelte Kinder sind Kinder, bei denen bestimmte Förderbedarfe ausgemacht worden sind. Sie benötigen besondere Betreuung. Betreuung, die nur durch mehr Personal möglich ist. „Und genau darum geht es“, sagt Kriegesmann. „Es geht um Personal.“ In Klassen, in denen Inklusionskinder sitzen, soll der Lehrer Unterstützung bekommen. Am besten von einem Sonderpädagogen. Dass sich diese Unterstützung auf die Hauptfächer beschränkt und vom Idealzustand, wie ihn sich Schulleiter und Lehrer vorstellen, noch weit entfernt ist nur ein Problem von vielen Problemen des Systems, mit dem sich alle arrangieren müssen.
Gespräche zwischen Tür und Angel
Viel heftiger kritisieren die Gewerkschafter, dass der notwendigen Abstimmung zwischen Lehrern und Sonderpädagogen kaum Zeit eingeräumt werde. „Die Zusammenarbeit zweier Professionen erfordert viele Absprachen“, sagt Bernd Ewering, „um ein gutes Miteinander im Klassenraum hinzubekommen“. Wie aber tauschen sich Lehrer und Sonderpädagogen im Alltag aus? Bei den „berühmten Tür- und Angelgesprächen“.
Grundschulen sind Orte Gemeinsamen Lernens
Die städtischen Grundschulen sind alle Orte des Gemeinsamen Lernens. Aktuell werden dort 257 Schüler zielgleich beziehungsweise zieldifferent unterrichtet. An den weiterführenden städtischen Schulen sind es 620 Schüler.
Zieldifferent bedeutet, dass Lernziele innerhalb einer Klasse gemäß dem Förderbedarf individuell festgelegt werden; beim zielgleichen Unterricht haben alle das gleiche Lernziel.
Ab dem Schuljahr 2019/20 soll das Gemeinsame Lernen nur an den Schulen der Sekundarstufe I eingerichtet werden, die von der Schulaufsicht mit Zustimmung des Schulträgers als solche bestimmt worden sind. Dieser Abstimmungsprozess läuft zurzeit.
Zwölf städtische Förderschulen gab es. Fünf sind in den vergangenen sieben Jahren geschlossen worden.
Denn Lehrerzeit ist Unterrichtszeit. Im regulären Stundenplan sei kein Platz für derartige Gespräche vorgesehen. Damit Inklusion dennoch funktioniere, sei also immer eine besondere Bereitschaft der Lehrer nötig – das betonen alle. Trotzdem stoße man an Grenzen: weil die Mittel fehlen, das Personal, die Zeit. Vom Gefühl, sich zigmal aufteilen zu müssen, ist die Rede, vom Gefühl, am Ende oft nur Schadensbegrenzung betreiben zu können, und vom Gefühl: „Die Kinder sind im Moment die Verlierer – was Schüler und Schülerinnen an Förderschulen an Förderung bekommen haben, bekommen sie momentan in der Inklusion nicht ansatzweise“.
Das Ziel war: mehr Teilhabe
Inklusion sei eingeführt worden, um mehr Teilhabe zu gewährleisten, sagt Martin Breuer. Als Sonderpädagoge sei man aber „dazu verdammt, von einem Kind zum anderen zu laufen, um sich zu kümmern“, so Kriegesmann. „Aber keinem Kind kann man dann vollständig gerecht werden.“
Eine Metapher wird in der Runde immer wieder aufgegriffen: die von der Decke, die ein bisschen wärmt aber viel zu klein ist.
Um positive Botschaft bemüht
„Wir haben gute Ergebnisse unter den gegebenen Bedingungen in der Grundschule“, sagt Martin Breuer. Er ist sichtlich um eine positive Botschaft bemüht. „Auch in einigen weiterführenden Schulen sind die Ergebnisse relativ gut.“ Man wolle ja nicht nur jammern, alles schlechtreden – aber am Ende jedes Schultages stehe für viele Lehrer und Sonderpädagogen die Erkenntnis: „Wir können die Dinge nicht so machen, wie wir sie uns eigentlich vorstellen.“ Inklusion bleibt schwierig.