Bochum. . Mit „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ gelingt Regisseur Fabian Gerhardt in den Kammerspielen ein virtuoser Abend.
Die Welt, ein Irrenhaus. Und mittendrin: Daniel Paul Schreber, Sohn des Kleingarten-Erfinders, der 1911 in der Heilanstalt Dösen nahe Leipzig in geistiger Umnachtung starb.
Sein Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, in dem er den schleichenden Zerfall seiner gequälten Seele genau beschrieb, gilt bis heute als wichtigste Fallstudie eines Psychiatriepatienten und inspirierte das Denken ganzer Generationen von Psychiatern. Und was vermutlich kaum jemand gedacht hätte: Der Text ist überraschend theatertauglich, wie die absolut prachtvoll anzuschauende, detailverliebte Uraufführung des Schreberschen Jahrhundertwerks in den Kammerspielen beweist.
Assoziationsreiche Gedankenwelt
Regisseur Fabian Gerhardt, dessen „Arc de Triomphe“ ein Erfolg war, hat die Kraft, Schrebers komplexe, assoziationsreiche Gedankenwelt mit Muße aufzublättern. Sein bester Einfall: Er versucht keine Aktualisierung, sondern lässt die Aufführung bewusst zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielen.
Die dunkle, mit einer langen Holzwand ausgestattete Bühne von Christian Wiehle und die ganz wundervollen Kostüme von Laura Kirst atmen mit morbidem Charme genau den Geist jener Dekade – als seien die Figuren direkt dem Gruselklassiker „Cabinet des Dr. Caligari“ entsprungen. Dazu setzt Gerhardt Videos ungemein geschickt ein: Ein riesiges Auge thront über der Bühne, während kleine Filme tief in Schrebers Hirnwindungen hinab steigen. So hartnäckig ist mit Video im Theater länger nicht gespielt worden.
Zentimeterdicke Schminke
Doch wer ist eigentlich dieser Schreber? Zu Beginn scheint die Rollenverteilung klar geregelt. Jürgen Hartmann gibt den Nervenkranken mit gesenktem Haupt, während Günter Alt als sein Widerpart, der Arzt Dr. Flechsig, auftritt. Die übrigen vier Schauspielerinnen (Veronika Nickl, Therese Dörr, Raphaela Möst und Simin Soraya), die unter zentimeterdicker Schminke kaum zu erkennen sind, treten als Stimmen in Schrebers Kopf auf. So weit, so erwartbar.
Doch dann – mitten in einem Dialog zwischen Arzt und Patient – dreht sich das Spiel und beide tauschen ihre Rollen. Auch die Damen und der Musiker Michael Emanuel Bauer mischen immer energischer mit, so dass die Figuren bald in einem wilden Ritt dauernd gewechselt werden. Das ist virtuos gebaut und kunstvoll durchdacht, lässt beim Zusehen aber nur wenig Empathie für die Hauptfigur aufkommen, da dauernd jemand anderes sie spielt. Großer Beifall.