Bochum. . Erwachsene mit ADHS haben mit völlig unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Deshalb erhalten viele Betroffene erst sehr spät ihre Diagnose.
Viele kennen das: Den Schlüssel mal nicht zu finden, zu Verabredungen zu spät zu kommen oder sich bei der Arbeit zu verzetteln. Philip begleiten Situationen wie diese jeden Tag, von morgens bis abends. Der 30-Jährige leidet unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). „Was für die meisten Menschen banaler Alltag ist, stellt mich vor große Herausforderungen“, sagt er.
Dass ADHS hinter seiner Unruhe, seinen Konzentrationsschwierigkeiten und seinen mangelnden Organisationsfähigkeiten steckt, wusste der Student lange nicht. „Je früher man die Diagnose bekommt, desto schneller kann man intervenieren. Bei einer Diagnose als Erwachsener hat man schon einen langen Leidensweg hinter sich“, sagt er. In der Selbsthilfegruppe in der Oase ist er auf Menschen getroffen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Probleme schon in der Schulzeit
„Ich habe große Schwierigkeiten mit dem Zeitmanagement. Das hat mir besonders in meinem dualen Studium Probleme bereitet“, sagt Dennis. Und Alexa berichtet: „Bei mir war schon die Schulzeit sehr schwierig. Ich habe immer vor mich hingeträumt und kam nicht mit.“ Daran kann Susanne, die heute zum ersten Mal die Gruppe besucht, anknüpfen: „Ich habe ständig reingerufen und war sehr unordentlich“, erinnert sie sich.
Als die 36-Jährige vor wenigen Monaten die Diagnose erhielt, machte vieles auf einmal Sinn – ihre Probleme mit der Impulskontrolle, ständige Umzüge, Reizüberflutung am Buffet. „Das Kind hatte endlich einen Namen“, sagt sie heute. In der Selbsthilfegruppe hofft sie auf Tipps zur Alltagsbewältigung. „Wir ergänzen uns gut, denn es gibt zwar ähnliche Symptome, aber nicht alles überschneidet sich“, sagt Philip. Während der Eine in Konflikt mit bürokratischen Instanzen gerate oder häufig den falschen Bus nehme, habe der andere Probleme mit Bewegungsdrang und Selbstorganisation.
Unverständnis im Umfeld
„Im Umfeld stößt man oft auf Unverständnis“, sagt Tom und berichtet von Stigmatisierungen wie „Ritalin-Kind“. „Ich gehe offen mit der Krankheit um, aber manche sagen: ‚Ach Quatsch, du doch nicht’ oder fragen, was denn schlimm daran sei“, sagt Dennis. Auch Ärzte würden sich oft nicht mit der Erkrankung auskennen.
Dabei wünschen sich die Betroffenen: „Anerkennung der Krankheit und Nachsicht, dass wir es nicht persönlich meinen“, so Alexa. In der Gruppe, deren „harter Kern“ aus acht Leuten besteht, reflektieren sich die Mitglieder in wöchentlichen Sitzungen selbst. „Wir bauen Strukturen auf, etwa, wenn jemand eine Hausarbeit schreiben muss. Wir reden aber genauso über Schlafverhalten, Listenführung oder Merkhilfen“, erklärt Philip, dem es dank der Selbsthilfegruppe leichter fällt, sich zum Beispiel für ein Gericht von der Restaurantkarte zu entscheiden.
Ebenso tauscht sich die Gruppe über Medikamente aus. „Hier ist man nicht alleine, auch wenn das banal klingt. Dadurch fühle ich mich nicht wie ein Alien“, sagt Alexa. Zwar erschwert ihre Krankheit den Betroffenen so manches, dennoch betonen sie: „ADHS hat auch wunderbare Seiten.“
Krankheit hat auch positive Aspekte
Dennis, der mit Unterstützung der Gruppe sein Studium erfolgreich abschließen konnte, sagt: „Ich habe einen bunten Kopf, eine bunte Welt und bin sehr begeisterungsfähig.“ Im Gegensatz zu den Einschränkungen durch einen gebrochenen Arm gehe ADHS etwa mit viel Kreativität und einem außergewöhnlichen Blickwinkel einher.
Interview: „Ein digitaler Spiegel für das Gehirn“
Oliver Zimmermann wendet in seiner Praxis die Methode des Neurofeedbacks an. Ein Interview
Was bedeutet die Diagnose ADHS?
Oliver Zimmermann: „ADHS“ ist eine hyperkinetische Störung. Die Leitsymptome sind: erstens beeinträchtigte Aufmerksamkeit, zweitens Hyperaktivität mit mangelnder Selbstkontrolle in Bezug auf Aktivität und Zielsetzung, drittens mangelnde Impulskontrolle/Impulsivität. Die Ursachen werden je nach Fachrichtung unterschiedlich diskutiert und können demnach genetisch, biochemisch (Neurotransmitterstörung) oder auch als gelerntes Verhalten resultierend aus Kindheit oder Bindungsproblemen der Betroffenen genannt werden.
Aus diesem Grund ist bei Verdacht auf ADHS eine gute Differenzialdiagnostik durch die behandelnden Mediziner, Psycholgen, Psychiater wichtig. Da Menschen mit ADHS meist schon zu Kindergarten- oder Schulzeiten durch ein gestörtes (Sozial-)verhalten auffallen, haben Erwachsene ADHSler oft einen langen psychoemotionalen Leidensweg hinter sich.
Wie behandeln Sie ADHSler in Ihrer Praxis?
Wir arbeiten mit Neurofeedback – einem digitalen Spiegel für das Gehirn. Es erfolgt zuerst eine Anamnese und ein differenziertes Symptomtracking. Neurofeedback basiert auf der Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns mittels EEG-Ableitung und deren Rückmeldung mittels Einbindung in computergesteuerter Animation. Durch Training mit dieser Methode können wir die Selbstregulationsfähigkeit des Gehirns verbessern, damit es stabiler, flexibler und funktionsfähiger arbeiten kann.
Beobachten Sie einen Anstieg der Diagnosen?
Ja, jedoch häufig nicht mit der Eingangsdiagnose ADHS. Sehr viele ADHSler finden ihren Weg zu uns mit komorbiden Störungsbildern, die die Symptomatik teilweise sogar überlagern wie zum Beispiel Ticstörungen, Zwänge, Depression, Schlafstörungen oder Süchte. Oft hatten sie schon in ihrer Kindheit Probleme und wurden damals vielleicht nur als „Zappelphilipp“ abgestempelt. Schätzungsweise gibt es etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland, die davon betroffen sind. Wir behandeln hier in der Praxis zunehmend erwachsene Patienten mit der Diagnose ADHS.