Bochum. . In Bochum-Stiepel hat bei der vergangenen Bundestagswahl 2013 fast jeder gewählt, in Wattenscheid nur gut die Hälfte. Auf der Suche nach Gründen.

  • Mit 84 Prozent war die Wahlbeteiligung in Stiepel so hoch wie in keinem anderen Stadtteil
  • In Wattenscheid-Mitte/Ost hatten nur 59 Prozent ihre Stimme abgegeben
  • Nirgendwo in Bochum gingen weniger Bürger zur Urne, im Schnitt waren es 72 Prozent

Manfred Bindemann hat immer noch Tränen in den Augen, wenn er an seine Pensionierung denkt. Es war der letzte Tag nach neun Jahren als Dorfschutzmann in Stiepel.

Susanne Luig, die Rektorin der Gräfin-Imma-Schule, ging mit ihm durch die Grundschule, verwickelte ihn in ein Gespräch, und plötzlich standen sie da, alle Schüler, alle Lehrer, alle Eltern, und dankten Manfred Bindemann für seine Arbeit, seinen Fahrradunterricht. „Das war für mich ein Zeichen: Du hast neun Jahre alles richtig gemacht“, sagt der 63-Jährige heute.

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Diese Anekdote ist auch ein Zeichen für das Engagement der Stiepeler. Es zeigt sich in den kleinen Dingen, wenn die Kirchenjugend und die DLRG-Jugend in der Adventszeit alten Menschen Weihnachtsbäume nach Hause bringen. Es zeigt sich in den großen Dingen, wenn die Kinder der Grundschule den Kreisverkehr am Ortseingang mit bunten Blumen gestalten, die nun ein Stiepeler Gärtner ehrenamtlich pflegt. „Man hält hier zusammen“, sagt Manfred Bindemann. Für ihn war das etwas ganz Neues, als er vor zehn Jahren in den Stadtteil kam. Früher hörte er als Polizist am Schreibtisch die Stimmen der Bürger nur durch das Telefon, plötzlich saß er ihnen wieder gegenüber, blickte ihnen wieder in die Augen.

Wahlbetiligung zwölf Prozent höher als im Bundesschnitt

Die Stiepeler Bürger sind die Bochumer, die am häufigsten wählen gehen. Knapp 84 Prozent gaben hier ihre Stimme ab bei der vergangenen Bundestagswahl im Jahr 2013. Die Wahlbeteiligung war zwölf Prozent höher als im Bundes- und Bochumschnitt.

Warum das so ist, versteht man besser, wenn man sich von Manfred Bindemann und Anne Burdeßa den Stadtteil zeigen lässt. Von dem Langendreerer, der in Stiepel als Dorfschutzmann und DLRG-Ehrenvorsitzender seine zweite Heimat gefunden hat, und von der Vorsitzenden der Flüchtlingshilfe, die, seit sie 17 Jahre alt war, in Stiepel wohnt und sagt: „Das ist ein Wohlfühlort, ich will hier nicht mehr weg.“

Anne Burdeßa hat sich schon in den 90er Jahren für Flüchtlinge engagiert.
Anne Burdeßa hat sich schon in den 90er Jahren für Flüchtlinge engagiert. © Olaf Fuhrmann

Als am 23. November 2015 die Flüchtlinge nach Stiepel kamen, gehörte Anne Burdeßa zu den ersten, die sie begrüßt haben. Nach einer Info-Veranstaltung der Stadt half sie bei der Gründung des Vereins Flüchtlingshilfe, sammelten Spendengelder. Es waren über 50 Stiepeler, die sich monatelang engagierten; noch immer kümmern sich zahlreiche um die Menschen, die sich hier integrieren, noch immer halten Freundschaften, die geschlossen wurden in dieser schwierigen Zeit.

Anfeindungen gegen Flüchtlinge in den 90er Jahren

„Die Bereitschaft zu helfen, das Engagement war sehr groß“, erinnert sich Anne Burdeßa, die es anders erlebte, als in den 90er Jahren die Kriegsopfer aus dem Kosovo kamen, als sie sich auch schon für die Geflüchteten einsetzte und deutlichen Gegenwind spürte. „Jetzt haben wir während unserer Arbeit nie Anfeindungen bekommen.“

Es sind der ehrenamtlich gepflegte Kreisverkehr, es ist die Stiepeler Dorfkirche, um deren Erhalt sich seit zwölf Jahren der Verein der Freunde und Förderer kümmert, es ist das Kloster, zu dessen Pfarrfesten der Bischof kommt, und das alte Wasserwerk nebenan, dessen Kellergewölbe die Bezirksvertretung in einen Konzertsaal umfunktionieren ließ: An vielen Ecken ist spürbar, dass sich die Stiepeler um ihren Stadtteil bemühen.

CDU bekommt in Stiepel 50 Prozent der Stimmen

Den Kreisverkehr am Stiepeler Ortseingang haben Grundschüler gestaltet.
Den Kreisverkehr am Stiepeler Ortseingang haben Grundschüler gestaltet. © Olaf Fuhrmann

„Die Stiepeler finden ihren Stadtteil gut, sie wollen sich ihr Umfeld erhalten und gehen auch deshalb wählen“, sagt Manfred Bindemann. Auch Anne Burdeßa meint: „Die Zufriedenheit sorgt dafür, dass die Menschen wählen gehen.“

Meist konservativ wählt man hier im Süden. Es ist der einzige Kommunalwahlbezirk, in dem die CDU bei der vergangenen Bundestagswahl gewann – mit knapp 50 Prozent der Stimmen. Die Linke lag bei unter vier Prozent, so niedrig wie in keinem anderen Bochumer Stadtteil.

Natürlich gehe es ihnen gut hier im Süden an der Ruhr, aber dazu trage auch jeder seinen Teil bei. „Wenn man nichts tut, geht alles den Bach runter“, weiß Manfred Bindemann. Das politische Bewusstsein sei groß, sagt die Wahlstiepelerin: „Wir fragen uns: Was könnte das für Konsequenzen haben, wenn wir nicht wählen gehen, wenn wir keine demokratische Partei wählen?“

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Politikverdrossenheit? Nein, die spüre er nicht hier in Wattenscheid, sagt Frederich Schmidt-Sonnenschein. Seit zehn Jahren macht er Straßenwahlkampf, steht nun bis zur Wahl jeden Dienstag und Freitag für die CDU auf dem Markt, verteilt Wahlprogramme, Stifte und Waffeln mit dem Konterfei von Christian Haardt. „Haardt aber herzlich“ lautet der Schriftzug unter dem Bild des Spitzenkandidaten für den Wahlkreis 140. „Die Frau Merkel, die hat das bis jetzt doch nicht schlecht gemacht“, höre Schmidt-Sonnenschein häufig von den Passanten.

Nur jeder Vierte stimmte bei der OB-Wahl ab

Für die meisten sei die Wahl schon gelaufen, eine erneute CDU-Regierung bereits gesetzt. Eine Abwehrhaltung, die habe Schmidt-Sonnenschein bei der Landtagswahl gespürt. „Wir wählen Ihre Partei sowieso nicht“, riefen sie ihm zu. Anfeindungen habe es gegeben, mehr in der Stadtmitte als in Wattenscheid. Nur 52 Prozent der Wattenscheider gingen im Mai an die Urne; fünf Jahre zuvor waren es bei der Landtagswahl nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten.

Ja, Wattenscheid fühle sich oft noch abgehängt von Bochum, meint Frederich Schmidt-Sonnenschein, das habe er bei der Kommunalwahl gespürt. Da fallen Sätze wie „Bochum kümmert sich nicht um uns“ – auch 40 Jahre nach der Eingemeindung. Nur jeder Vierte stimmte 2015 bei der Wahl und der Stichwahl des Oberbürgermeisters ab. Jetzt, bei der Bundestagswahl, sei das anders, „die geht alle was an“.

Wattenscheider: „Es ändert sich sowieso nichts“

Auch die Sozialdemokraten, die wenige Meter weiter am Rand des Marktes ihren Stand aufbauen, spüren Zulauf. „Ein Gespräch ist wichtiger als ein Kugelschreiber“, sagt Christina Knappe, die seit 13 Jahren für die SPD im Rat sitzt. Sie geht auf die Leute zu, spürt deutliches Interesse der Bürger.

Fragt man die Passanten der Fußgängerzone, ob sie wählen gehen, gibt es nur wenige, die verneinen. „Natürlich, das ist unsere Bürgerpflicht“, sagt ein Ehepaar, „nein, die machen doch sowieso nichts für uns“, sagt eine junge Frau, „wozu jemandem die Stimme geben? Es ändert sich doch nichts“. Und ein anderer spricht deutlich aus, was viele Wattenscheider nur andeuten: „Sie müssen sich hier ja nur umgucken“, sagt er, „hier gibt es eine andere Sozialstruktur. Und: Je ungebildeter die Leute sind, desto eher gehen sie nicht wählen.“