Istanbul. Simon Hartmann lebt in Istanbul. Als der Putsch begann, saß er in einem Restaurant. Eine Massenpanik brach los. Als später Kampfjets über die Stadt donnerten, gerieten er und seine Freunde selbst in Panik.

  • Simon Hartmann studiert an der RUB „European Culture and Economy“ und lebt derzeit in Istanbul
  • Der Student hat den Putsch-Versuch von Teilen des türkischen Militärs miterlebt
  • In diesem Gastbeitrag schildert er die brisanten Stunden

Simon Hartmann studiert an der Ruhr-Universität Bochum „European Culture and Economy“. Für ein Erasmuspraktikum bei einer Stiftung ist der 26-Jährige gerade in Istanbul. Seine Wohnung liegt im Stadtteil Beyoglu, keine 15 Minuten entfernt vom Taksim-Platz. Hartmann wurde in der Nacht zu Samstag Zeuge des gescheiterten Umsturzes von Teilen des türkischen Militärs. So hat er die denkwürdigen Stunden erlebt:

Noch vor wenigen Stunden war ich mit Freunden zum Feiern in der Innenstadt von Istanbul. Wie so viele wollten wir das Wochenende einläuten, mit einem guten Abendessen. Vielleicht wären wir später noch tanzen gegangen. Doch plötzlich überschlugen sich die Ereignisse.

Ein Fernseher in unserem Fischrestaurant hatte schon seit einiger Zeit schattige Bilder von der Bosporus-Brücke gezeigt. Militärfahrzeuge blockierten die Straße, noch ohne Angabe von Gründen. Doch dann übernahm die Armee die Kontrolle über das Staatsfernsehen. Wir erfuhren, dass die Parteizentrale der AKP [Anm. d. Red.: Regierungspartei] und das Parlament von Soldaten erobert worden sei.

"Ich lernte das Wort Darbe"

Ein ranghoher Militär verkündete im Fernsehen, dass die Regierung abgesetzt sei und die Bürger nach Hause gehen sollten. Ich lernte das Wort "Darbe", Putsch. Der Mann, der mich diesen Begriff lehrte, war höchst angespannt. Er ist Syrer und hat genug Kriegserfahrung, um die Lage einschätzen zu können. Unverständnis machte sich unter meinen Freunden breit, noch spürten wir keine Furcht. Doch das sollte sich schnell ändern.

Simon Hartmann studiert an der Ruhr-Universität Bochum „European Culture and Economy“
Simon Hartmann studiert an der Ruhr-Universität Bochum „European Culture and Economy“ © Privat

Wir befanden uns auf der İstiklal, der Prachtstraße Istanbuls, die den Taksim-Platz mit der Galatasaray-Schule verbindet. Wir wollten uns gerade beraten, als die Massenpanik losbrach. Irgendwo am oberen Ende der Straße musste etwas passiert sein. Wir konnten aus der Entfernung sehen, wie die Leute unter lautem Geschrei auf uns zu stürmten. Es ging alles so schnell. Geistesgegenwärtig drängte sich mein Trupp in einen Hauseingang und ließ die Leute vorbeilaufen.

Hektische Gedanken: War da oben ein Terrorist? Keine zwei Wochen war es her, das "Daesh" den Flughafen angegriffen hatten. Waren es Putschisten oder regierungstreue Milizen? Dies war eine der Fragen, auf die wir in dieser Nacht keine Antwort finden sollten. Entschlossen gingen wir durch Seitenstraßen zu meinem Haus, ganz in der Nähe. Die Straßen waren schon spürbar leerer, wer konnte, eilte zu Freunden in der Nähe.

Internet wurde zur wichtigsten Informationsquelle

Das Internet wurde unglaublich wichtig. Auch mein Mitbewohner hatte seine Freunde mit zu uns gebracht. Ich saß mit etwa zehn Leuten auf meiner Terrasse, jeder mit seinem Telefon in der Hand. Ich hörte halb fasziniert, halb beängstigt, wie die Leute um mich herum in unterschiedlichen Sprachen ihre Lieben darüber informierten, dass sie in Sicherheit sind.

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Kurzfristig waren die sozialen Netzwerke überlastet. Um das Hauptquartier des türkischen Staatsfernsehens wurde offenbar gekämpft. Bald waren die ersten Schüsse in nächster Nähe, bald die ersten Explosionen. Verdunkelte Helikopter kreisten über der Stadt.

Im Fernsehen wurden wir Zeuge einer merkwürdigen Szene. Erdogan war via FaceTime zugeschaltet. Eine Moderatorin hielt ihr Telefon in die Kamera, auf dessen Bildschirm der sichtlich angespannte Präsident zu sehen war. Der Mann forderte doch tatsächlich die Nation zum Widerstand auf. Die Bürger sollten auf die Straße gehen, die öffentlichen Plätze zurückerobern, die Demokratie verteidigen.

Türken erobern Straßen und Plätze zurück

Keine Viertelstunde später konnten wir einen Mob hören, der sich seinen Weg durch meine Nachbarschaft bahnte. Es müssen hunderte Männer gewesen sein, die in rauer, geradezu fanatischer Stimmung religiöse Slogans in die Nacht schrien und augenscheinlich zum Taksim-Platz marschierten.

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Bei dem Anblick bekam ich Gänsehaut. Natürlich weiß ich, dass viele Türken Handfeuerwaffen besitzen. Aber was können Bürger, selbst wenn sie noch so mutig sind, gegen Panzer, Gewehre und Helikopter ausrichten? Manche unserer Nachbarn stießen die Fenster auf und jubelten dem ungeordneten Tross zu. Andere verdunkelten lieber ihre Zimmer. Wir taten es letzteren gleich.

Jetzt zeigte das Internet seine negativen Seiten. Wo es uns zuvor genützt hatte, um an Informationen zu kommen, machten nun Gerüchte ihre Runde. Die Behauptung, Erdogan sei nach Deutschland geflohen, um Asyl zu beantragen, doch von der Bundesregierung abgewiesen worden, war noch eine der offensichtlichen Unwahrheiten.

Doch wer konnte gleiches von dem Buzz-Feed sagen, wonach das Militär in einem symbolischen Fanal den Präsidentenpalast gesprengt habe? War es wirklich wahr, dass die Regierung immer noch Kontrolle über einige Militärverbände hatte, die sich mit den Deserteuren in der Hauptstadt ein Luftgefecht lieferten? Immer wieder hörten wir Schüsse, aber wer konnte sagen, von wem sie stammten. Wer hatte die Überhand?

Wir glaubten, das Militär bombardiert Istanbul 

Plötzlich sauste der erste Kampfjet über die Stadt hinweg. Er flog offenbar eine große Runde. Wir horchten auf, einige stürmten an den Rand der Terrasse, um Ausschau zu halten. Andere rannten schon in den Flur, in Deckung. Wir konnten nur mutmaßen, dass der Jet in Händen der Putschisten war. Mein Stadtteil war offenbar in AKP-Hand, wie uns die Demonstranten eindrücklich veranschaulicht hatten. Die Armee würde doch nicht etwa Bomben werfen? Dieser Gedanke war plötzlich in all unseren Köpfen.

Der Jet kam zurück und flog dieses Mal besonders tief. Mit einem zähen Quietschen und scheppernden Nachhall dröhnte er durch die Nacht. Dann ein Knall, ohrenbetäubend, düster, vernichtend. Panik auf der Terrasse, ein Tisch zerbrach, hektisches Fingern am Türschloss. Alle in das Treppenhaus, sofort! Wir mussten glauben, das Militär habe tatsächlich die Stadt bombardiert.

Putschversuch in der Türkei beendet

Der Putschversuch in der Türkei ist nach Angaben der Regierung beendet. Präsident Erdogan zeigt sich in Istanbul seinen Unterstützern.
Der Putschversuch in der Türkei ist nach Angaben der Regierung beendet. Präsident Erdogan zeigt sich in Istanbul seinen Unterstützern. © REUTERS
Die türkische Regierung hat wieder die Kontrolle übernommen. Nur in der Nähe des Präsidentenpalastes in Ankara gebe es aber noch Probleme, so Erdogan.
Die türkische Regierung hat wieder die Kontrolle übernommen. Nur in der Nähe des Präsidentenpalastes in Ankara gebe es aber noch Probleme, so Erdogan. © REUTERS
Noch sind die Kämpfe nicht vorüber. In der Nacht waren in den Straßen von Ankara und der Metropole Istanbul Panzer aufgefahren. Schüsse wurden abgegeben.
Noch sind die Kämpfe nicht vorüber. In der Nacht waren in den Straßen von Ankara und der Metropole Istanbul Panzer aufgefahren. Schüsse wurden abgegeben. © REUTERS
Am Samstagmorgen klettern Menschen auf Panzer und schwenken Türkei-Flaggen.
Am Samstagmorgen klettern Menschen auf Panzer und schwenken Türkei-Flaggen. © Getty Images
In Istanbul wurden an der Bosporus-Brücke Wasserwerfer eingesetzt, ...
In Istanbul wurden an der Bosporus-Brücke Wasserwerfer eingesetzt, ... © REUTERS
... um gegen die Putschisten vorzugehen.
... um gegen die Putschisten vorzugehen. © Getty Images
Später prügelten Menschen auf die Putschisten ein. Soldaten versuchen, sich vor dem Mob in einen Bus zu retten.
Später prügelten Menschen auf die Putschisten ein. Soldaten versuchen, sich vor dem Mob in einen Bus zu retten. © REUTERS
Die Soldaten, die in den Putsch verwickelt waren und festgenommen wurden, mussten Klamotten und Waffen auf den Boden legen.
Die Soldaten, die in den Putsch verwickelt waren und festgenommen wurden, mussten Klamotten und Waffen auf den Boden legen. © Getty Images
In Istanbul trauten sich am Morgen die Menschen wieder auf die Straße.
In Istanbul trauten sich am Morgen die Menschen wieder auf die Straße. © dpa
Auf der Bosporus-Brücke in Istanbul versammelten sich unzählige Menschen.
Auf der Bosporus-Brücke in Istanbul versammelten sich unzählige Menschen. © Getty Images
Einige machten vor den Panzern Selfies, ...
Einige machten vor den Panzern Selfies, ... © REUTERS
... andere kletterten auf die zurückgelassenen Militärfahrzeuge.
... andere kletterten auf die zurückgelassenen Militärfahrzeuge. © Getty Images
Das Parlamentsgebäude in Ankara wurde bei den Ausschreitungen teilweise zerstört.
Das Parlamentsgebäude in Ankara wurde bei den Ausschreitungen teilweise zerstört. © dpa
Fotos zeigen Trümmer, zerborstene Scheiben und Schäden am Mauerwerk.
Fotos zeigen Trümmer, zerborstene Scheiben und Schäden am Mauerwerk. © REUTERS
Die Putschisten hatten eine Bombe im türkischen Parlament gezündet.
Die Putschisten hatten eine Bombe im türkischen Parlament gezündet. © imago/Depo Photos
Nicht nur Anhänger Erdogans, sondern auch breite Teile der Bevölkerung stellten sich in der Nacht gegen die Putschisten.
Nicht nur Anhänger Erdogans, sondern auch breite Teile der Bevölkerung stellten sich in der Nacht gegen die Putschisten. © REUTERS
Die Panzer schmückten sie mit Bildern von Erdogan.
Die Panzer schmückten sie mit Bildern von Erdogan. © REUTERS
Am Taksim-Platz in Istanbul wurde eine große Türkei-Flagge ausgebreitet.
Am Taksim-Platz in Istanbul wurde eine große Türkei-Flagge ausgebreitet. © dpa
Zuvor war der Platz noch bewacht worden.
Zuvor war der Platz noch bewacht worden. © REUTERS
Freitagabend hatten Teil des türkischen Militärs einen Putschversuch unternommen.
Freitagabend hatten Teil des türkischen Militärs einen Putschversuch unternommen. © REUTERS
Ministerpräsident Binali Yildirim sagte dem Sender NTV am Freitagabend, die Sicherheitskräfte täten alles Notwendige, um die Situation zu entschärfen.
Ministerpräsident Binali Yildirim sagte dem Sender NTV am Freitagabend, die Sicherheitskräfte täten alles Notwendige, um die Situation zu entschärfen. © REUTERS
Soldaten hatten beide Bosporus-Brücken in Istanbul abgesperrt.
Soldaten hatten beide Bosporus-Brücken in Istanbul abgesperrt. © Getty Images
Die Brücken verbinden die asiatische mit der europäischen Seite der Türkei.
Die Brücken verbinden die asiatische mit der europäischen Seite der Türkei. © Getty Images
Der türkische Präsident Erdogan rief über FaceTime am Freitagabend das Volk dazu auf „sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln“.
Der türkische Präsident Erdogan rief über FaceTime am Freitagabend das Volk dazu auf „sich auf den Plätzen und am Flughafen zu versammeln“. © Getty Images
Der Putschversuch in der Türkei ging nach Darstellung von Präsident Recep Tayyip Erdogan von einer Minderheit in der Armee aus.
Der Putschversuch in der Türkei ging nach Darstellung von Präsident Recep Tayyip Erdogan von einer Minderheit in der Armee aus. © REUTERS
Die Putschisten hatten eine Ausgangssperre im ganzen Land verhängt.
Die Putschisten hatten eine Ausgangssperre im ganzen Land verhängt. © REUTERS
Auf den Straßen in Istanbul waren Panzer zu sehen, ...
Auf den Straßen in Istanbul waren Panzer zu sehen, ... © REUTERS
... die von Protestanten erklommen wurden.
... die von Protestanten erklommen wurden. © REUTERS
Auch in Ankara waren Panzer unterwegs.
Auch in Ankara waren Panzer unterwegs. © Getty Images
Ein Mann versuchte mit allen Mitteln, einen Panzer am Atatürk-Flughafen zu stoppen.
Ein Mann versuchte mit allen Mitteln, einen Panzer am Atatürk-Flughafen zu stoppen. © REUTERS
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Die Gerüchte aus dem Netz waren nicht hilfreich. Jemand behauptete, die Bürgerwehr hätte den Taksim-Platz zurückerobert, aber nun hätte die Luftwaffe der Putschisten den Platz bombardiert. Zwei meiner Freunde verfielen ins Schluchzen, ich sprach mit ihnen ein Gebet. Erst später sollten wir erfahren, dass der Jet von der Regierung kontrolliert wurde und das, was wir für eine Bombardement gehalten hatten, wohl nur der Überschallknall gewesen war.

Kaffee und Zigaretten gegen die Angst und den Stress

Gut eine Stunde oder so hockten wir zehn Leute im Treppenhaus. Dann schien sich die Lage draußen zu beruhigen. Wir trauten uns wieder in die Wohnung. Bei Kaffee und vielen Zigaretten beruhigen sich die Gemüter wieder. Einige von uns verfielen in einen erschöpften Schlaf, während andere die Nacht durchwachten.

Jetzt ist wohl alles vorbei. Die Regierung hat wieder die Macht übernommen. Die Zahl der verhafteten Offiziere und Soldaten schnellt stündlich in die Höhe, liegt schon in den Tausenden. Bilder von tapferen Bürgern drängen sich auf meine Facebook-Wand, wie sie einen Panzer erobern. Erdogan wie er durch die Stadtteile Istanbuls geht und von den Massen bejubelt wird. Abgeordnete aller Fraktionen, die der Regierung ihr Vertrauen aussprechen.

Der Tag soll nun ein Feiertag werden, an dem die Türken ihre Demokratie verteidigt haben. Die Muezzins haben schon seit einer Weile wieder mit ihren Klageliedern begonnen. Doch es ist nicht das islamische Glaubensbekenntnis, das der Prediger mit kräftiger Stimme in die Welt hinausschreit, sondern ein Sieggeheul, trotzig aber auch melancholisch. Über 200 Menschen sollen heute in der Türkei getötet worden sein. Die Republik hingegen hat die Nacht überlebt, die Regierung ist wieder im Amt, der Putsch zerschlagen.

Kaum ist der Muezzin verstummt, liegt Istanbul still da, abwartend, unsicher, gespenstisch. Keine Explosionen mehr, keine Schüsse, keine Kampfjets über unseren Köpfen. Nur diese seltsame, aber siegessichere Stille.