Istanbul/Berlin. Wer sind die Putschisten und welche Rolle spielt das Militär? Hält der EU-Flüchtlingsdeal? Die Türkei wirft gerade viele Fragen auf.

  • Wie geht es weiter, wer hat die Macht?
  • Putschversuch in der Türkei wirft gerade viele Fragen auf
  • Wir versuchen, die wichtigsten zu beantworten

Kampfflugzeuge donnern über die türkische Hauptstadt Ankara hinweg, Panzer rasseln durch die Straßen, Soldaten und Polizisten liefern sich Feuergefechte auf dem Taksim-Platz, im Parlament explodiert eine Bombe: Die Türkei drohte am späten Freitagabend ins Chaos zu stürzen. Am Samstag schien der Putschversuch niedergeschlagen zu sein. Die blutige Bilanz: mindestens 265 Tote, unzählige Verletzte. Fast 2900 Soldaten wurden festgenommen, fast 3000 Richter abgesetzt. Die Lage bleibt unübersichtlich.

Wer steckte hinter dem Putsch?

Die Putschisten selbst bezeichneten sich als „Friedensrat“, der das Land nun regieren werde. Ihr Ziel sei es, „die verfassungsmäßige Ordnung, Demokratie, Menschenrechte und Freiheiten wiederherzustellen“. Präsident Erdogan habe immer autokratischer geherrscht, der Terrorismus sich immer weiter ausgebreitet. Nun sollten wieder „Rechtsstaatlichkeit und Ordnung gelten“, hieß es in einer Verlautbarung der Putschisten. Die E-Mail hat den Absender des Pressebüros des Generalstabs des Militärs. Zwischen den Zeilen war zu lesen, dass die Rebellion auf Offiziere zurückgeht, die sich der Trennung von Staat und Religion verpflichtet fühlen und die von Erdogan betriebene Islamisierung des Staates stoppen wollten. Erdogan erklärte, hinter dem versuchten Staatsstreich stehe „eine kleine Minderheit“ der Armee. Er beschuldigte seinen Erzfeind Fethullah Gülen als Drahtzieher des Putschversuchs.

Wie mächtig ist das Militär?

Vor knapp 20 Jahren gelang es den türkischen Militärs noch, den Islamisten Necmettin Erbakan durch massiven Druck von der Macht zu vertreiben. Erbakan gilt als der politische Ziehvater Erdogans. Jetzt scheiterte der Versuch, Erdogan zu stürzen. Das Militär hat offensichtlich einen Großteil seiner Macht eingebüßt. Traditionell berufen sich die Generäle auf den Staatsgründer Atatürk, sie sehen sich als Wächter der weltlichen Staatsordnung – und zögerten in der Vergangenheit nicht, sie aktiv zu verteidigen. Nachdem vor 14 Jahren Erdogans AK-Partei die Wahlen gewonnen hatte, gab es Befürchtungen, die Generäle könnten wieder eingreifen. Doch es blieb ruhig. Stattdessen begann Erdogan damit, die Macht der Militärs zu stutzen. Er berief sich auch auf die EU-Reformvorgaben.

Erdogan besetzte wichtige Führungspositionen um. So ernannte er Hulusi Akar 2015 zum Armeechef, der wenig später Trauzeuge bei der Hochzeit einer Erdogan-Tochter war. Zuvor hatte der Staatschef mehreren Hundert Offizieren vorgeworfen, mit der Hilfe des Geheimbundes „Ergenekon“ einen Putsch geplant zu haben. Im Sommer 2013 wurden viele von ihnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Später wurden einige Urteile auf Betreiben Erdogans aufgehoben. Zahlreiche Militärs gaben ihre Posten auf. Die Armee galt zuletzt als weitgehend entmachtet. Der Putschversuch aber zeigt: Nicht alle im Generalstab wollen sich damit abfinden. Unter den Putschisten waren mindestens fünf Generäle und 29 Oberste.

Hat Erdogan tatsächlich die Kontrolle zurück?

„Die Türkei wird nicht vom Militär regiert“, sagte Erdogan in der Nacht zum Sonnabend. „Der Präsident, den 52 Prozent des Volkes an die Macht gebracht haben, hat die Kontrolle.“ Da wurde noch gekämpft. Die Putschisten würden einen „hohen Preis für ihren Hochverrat zahlen“, so Erdogan. Am Hauptquartier der Streitkräfte in Ankara, wo sich in der Nacht Putschisten verschanzt und Geiseln genommen hatten, fielen Schüsse. Es war unklar, wer das Gebäude kontrollierte. Ministerpräsident Yildirim sagte am Nachmittag, man habe alles „vollständig unter Kontrolle“.

Wie geht es jetzt weiter?

Erdogan kündigte an, er werde mit aller Härte gegen die Putschisten vorgehen. Vor allem für die Anhänger der Gülen-Bewegung wird es schwer. Der Putschversuch wird die innenpolitische Polarisierung in jedem Fall verschärfen. Beobachter erwarten, dass Erdogan jetzt seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems, das ihm noch mehr Macht geben soll, forcieren wird. Er könnte gestärkt aus den Ereignissen hervorgehen.

Machen sich andere Gegner Erdogans die Lage zunutze?

Die Gefahr besteht. Zwar demonstrierten am Samstag auch Kurden für Erdogan und gegen die Militärs. Doch der Putschversuch zeigt, wie weit die Türkei von Stabilität entfernt ist. Das spielt dem IS in die Hände, der seit Juli 2015 bei Anschlägen in der Türkei mehr als 200 Menschen getötet hat. Auch militante Kurden wie etwa die Terrorgruppe „Freiheitsfalken Kurdistans“ haben in den vergangenen Monaten mit mehreren Bombenanschlägen ihre Schlagkraft demonstriert.

Was wird aus dem europäischen Flüchtlingsdeal mit der Türkei?

Bisher erfüllt die Türkei ihre Zusagen weitgehend. Ein wichtiger Bestandteil des Flüchtlingsabkommens ist die Visafreiheit für Türken in der EU. Sie scheitert bisher daran, dass die Türkei die versprochene Lockerung der Anti-Terror-Gesetze ablehnt. In dieser Frage wird Erdogan jetzt erst recht hart bleiben, denn die Anti-Terror-Gesetze sind eine wichtige Waffe im Kampf gegen seine politischen Gegner. An diesem Streit könnte der Deal in die Brüche gehen.

Hat der Putschversuch Folgen für die deutschen Soldaten in Incirlik?

Die Sicherheitsmaßnahmen auf der Luftwaffenbasis Incirlik in der Südtürkei wurden erhöht. „Es handelt sich um eine routinemäßige, vorsorgliche Erhöhung der Bereitschaftsstufe zum Schutz der Soldaten“, so das Verteidigungsministerium. Die Lage sei ruhig. Der US-Sender CNN berichtete hingegen, die Basis sei von der Stromversorgung abgeschnitten. Lokale Behörden würden den Zugang blockieren. 240 Bundeswehrsoldaten beteiligen sich von Incirlik aus mit Tornado-Jets am Kampf gegen die Terrormiliz IS.